Müssen wir die Erststimme abschaffen? – Eine Erwiderung auf Franz-Josef Hanke

In den interessierten Kreisen wird nun, zwei Wochen nach der Bundestagswahl, darüber nachgedacht, welche Möglichkeiten es gibt, die Wähler wieder an die Politik heran zu führen und das Vertrauen in die demokratischen Institutionen zu stärken. Ein Thema ist dabei das Wahlrecht, über dessen Veränderung ich von Blog zu Blog mit Franz-Josef Hanke debattiere.

Auf meine Frage in diesem Blog: brauchen wir eine Wahlrechtsreform, antwortete mein langjähriger politischer und persönlicher Freund mit einem klaren ja. Unter dem Titel Demokra tie ohne Hürden: Ein neues Wahlrecht muss die menschen motivieren stellte er seine Forderungen für eine Wahlrechtsreform auf. Er hatte sie schon in diesem Blog als Antwort auf meinen Beitrag kurz umrissen. Im Folgenden möchte ich auf seine Vorschläge und Thesen näher eingehen.

Als ersten Schritt zu einer grundlegenden Wahlrechtsreform schlägt Franz-Josef Hanke die Absenkung der 5-Prozent-Hürde auf z. B. 1 Prozent vor. Allerdings will er als Grundlage nicht die abgegebenen Stimmen, sondern die wahlberechtigten Bürger ansetzen. Damit könnte eine Partei in den Bundestag kommen, wenn sie rund 619.000 Stimmen auf sich vereinigen kann, bei der letzten Bundestagswahl waren das rund 1,5 %. Damit handelt es sich um eine ungerechtfertigte Hürde durch die Hintertür. Je weniger Menschen zur Wahl gehen, desto höher liegt die Hürde für kleinere Parteien, tatsächlich in den Bundestag zu kommen. Stelle man sich eine Wahlbeteiligung von, sagen wir, 55 % vor, die in den USA vollkommen normal ist. Damit würden rund 34 Millionen Stimmen abgegeben. Eine Partei, die in den Bundestag einziehen wollte, müsste 1 % der wahlberechtigten Bürger erreichen,, also wie gesagt rund 619.000 Stimmen, oder, in unserem hypothetischen Fall, 1,8 % der tatsächlich abgegebenen Stimmen. Damit hätten die großen Parteien einen Vorteil, je weniger Menschen zur Urne gingen. Aus diesem Grunde halte ich es weiterhin für sinnvoll, von den abgegebenen Stimmen als 100 % bei einer Wahl auszugehen. Anders ist es natürlich, wenn in der Verfassung selbst eine Mehrheit der Wahlberechtigten bei einer Abstimmung gefordert werden würde, was aber derzeit in Deutschland ohnehin noch nicht der Fall ist.

Weiterhin schlägt Franz-Josef Hanke vor, den Bundestag zu verkleinern, vielleicht auf ein drittel. Bei derzeit 299, also sagen wir 300 Wahlkreisen, müsste man deren Anzahl auf 100 verringern. Dann wäre es aber nicht mehr möglich, die Wahlkreise immer mit den Landesgrenzen abschließen zu lassen. Bremen beispielsweise hat jetzt nur 2 Wahlkreise, das Saarland lediglich 4. Zumindest Bremen wäre dann nicht einmal mehr mit einem eigenen Direktkandidaten im Bundestag vertreten. Ich glaube schon, dass sich ein so großes Land wie Deutschland auch genügend Volksvertreter leisten sollte, dass die Gewählten jeweils auch Ahnung von ihrem Wahlkreis haben können, zumindest die direkt gewählten Kandidaten. Denn so war das personalisierte Verhältniswahlrecht ja gedacht, dass die mit der Erststimme gewählten Kandidaten persönlich in den Wahlkreisen das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger genießen. Wenn für das ganze Saarland nur noch ein einziger Abgeordneter direkt gewählt wird, und für Bremen keiner mehr, wäre das meiner Ansicht nach der demokratischen Repräsentation nicht förderlich. Schon jetzt sind die Wahlkreise recht groß, aber anders geht es ja auch nicht, wenn der Bundestag nicht übermäßig aufgebläht werden soll. Wenn man die Zahl der Abgeordneten des Bundestages konstant durch eine Wahlrechtsreform auf 500 festlegen könnte, wäre ich damit durchaus zufrieden. Zumal ich nicht glaube, dass bei der Vergrößerung der Wahlkreise, wie Franz-Josef Hanke sagt, der einzelne Abgeordnete wichtiger wird und sein Verhalten dadurch größerer öffentlicher Kontrolle unterliege. Ich fürchte, eher das Gegenteil ist der Fall: Je anonymer der Abgeordnete in seinem Wahlkreis ist, desto weniger schaut die Wahlkreisöffentlichkeit auf ihn. Er wird mehr und mehr zum Bundespolitiker, nicht zum
Wahlkreispolitiker, und er löst sich damit von der Wählerschaft, die ihn ins Parlament gebracht hat.

Um Überhang- und Ausgleichsmandate künftig zu vermeiden, schlägt Franz-Josef Hanke vor, keine Landeslisten der Parteien mehr aufzustellen, sondern eine einzige Bundesliste. Das klingt auf den ersten Blick bestechend, löst aber das eigentliche Problem nicht. Zunächst einmal wäre die Bundespartei für die Aufstellung der Bundesliste verantwortlich, nicht mehr die einzelnen Landesgruppierungen. Damit würde die Kandidatenaufstellung zentralisiert, abgesehen von den Direktkandidaten. Es wäre also unmöglich, eine Person auf einen aussichtsreichen Landeslistenplatz zu setzen, die der Führung der Bundespartei nicht passt. Die Liste würde von einem Bundesparteitag aufgestellt, und auch die Berliner würden über bayerische Kandidaten mitentscheiden. Außerdem wäre es viel schwieriger, auf eine ausgewogene Vertretung aller Regionen auf der Bundesliste zu achten.

Und letztlich würden durch diese Maßnahme Überhangmandate nicht verhindert, sie können auch bundesweit vorkommen. Überhangmandate entstehen dann, wenn eine partei in einem Land durch die Erststimmen, also die Direktkandidaten pro Wahlkreis, mehr Sitze erhält, als ihr in diesem Land nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Da man keine direkt gewählten Erststimmen wegnehmen kann, bleiben alle Bewerber gewählt, die Landesliste der partei wird nicht berücksichtigt. Inzwischen ist das Wahlrecht so geändert worden, dass zum Ausgleich für die Überhangmandate einer Partei den anderen Parteien so viele Mandate zugeteilt werden, bis das Verhältnis wieder so ist, wie es nach dem Zweitstimmenergebnis sein muss. Ein höchst kompliziertes Verfahren, das man, wenn möglich, vereinfachen sollte, allerdings ohne die demokratische Legitimität einzuschränken. Franz-Josef Hankes Vorschlag nun würde die Situation spürbar entlasten. Überhangmandate kämen nur noch dann vor, wenn eine Partei auf Bundesebene mehr Erststimmen hat, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. In Bayern wird das regelmäßig passierren. Es mag uns gefallen oder nicht, die CSU ist eine eigene Partei, die sich sogar programmatisch in einigen Punkten von der CDU unterscheidet. Sie zieht in den Bundestag ein, weil sie selbst auf Bundesebene mit ihren eigenen Stimmen die 5-Prozent-Hürde knackt, obwohl sie nur in Bayern antritt. Wenn sie im Modell von Franz-Josef Hanke alle 45 bayerischen Wahlkreise erringt, was sie beispielsweise diesmal tat, wäre das mehr, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zusteht, wenn auch nur knapp. Auf Bundesebene haben CDU und CSU 235 der 299 Direktmandate gewonnen. Diesmal würde es so gerade noch aufgehen. In dem wegen fehlender Überhang- und ausgleichsmandate verkleinerten Bundestag, in dem auch keine 5-Prozent-Klausel gelten würde, hätte die Union 248 Mandate. Wäre ihr Sieg aber nicht so groß im Zweitstimmenbereich ausgefallen, wäre es schwierig geworden, denn ihr Erststimmenanteil ist traditionell immer sehr hoch. Nur der überwältigende Wahlsieg, früher wäre es ein normaler gewesen, rettet uns auch im Modell Hanke vor Überhang- und damit auch vor Ausgleichsmandaten.

Meiner Ansicht nach ergibt die Bundesliste nur dann Sinn, wenn man die Direktmandate gänzlich abschafft und, wie es beispielsweise in den Niederlanden gehandhabt wird, man einen bestimmten Kandidaten auf der Liste ankreuzen kann, wenn man der partei seine einzige Stimme gibt. Die sogenannte Vorzugsstimme bestimmt die Listenplätze der Partei und damit auch, wer auf welchem Listenplatz steht, wenn die Mandate verteilt werden. Das wäre aber für Deutschland nicht so praktikabel, weil regionale Größen dann keine Chance hätten. Das ist meiner Ansicht nach nur in einem kleinen Flächenland denkbar.

Auch einen weiteren Vorschlag von Franz-Josef Hanke muss ich ablehnen, obwohl er mir wirklich persönlich gefällt, aber er ist beim personalisierten Verhältniswahlrecht nicht praktikabel. Hanke schlägt vor, nur die Sitze im Parlament zu besetzen, die tatsächlich dem Anteil der Wähler an der wahlberechtigten Bevölkerung entsprechen, das heißt, er will für die Nichtwähler Sitze leer lassen. Diesmal wären das 28,5 % oder, bei normalerweise 598 Bundestagsmitgliedern, 170 Sitze. Wir hätten also einen Bundestag, der aus 428 Abgeordneten bestehen würde. Davon wären 299 direkt gewählt, denn man kann ja keinen Wahlkreis leer lassen, weil in jedem Wahlkreis eine Person direkt gewählt worden ist. Die Nichtwähler können sich ja nur auf die Zweitstimme beziehen. Die Union hätte nach dem Zweitstimmenergebnis gemeinsam 41,5 % und 177 Abgeordnete. Doch schon ihre direkt über die erststimme errungenen Sitze belaufen sich auf 235. Daran ist nichts zu ändern, es sei denn, man wollte einen tatsächlich mit Stimmen geäußerten direkten Wählerwillen ignorieren. Um am Ende relativ sicher das Zweitstimmenergebnis im Parlament abbilden zu können, darf der Anteil der übe die Erststimme gewählten Abgeordneten keinesfalls mehr als die Hälfte der Sitze betragen. Beim Leerlassen der Sitze für die Nichtwähler wäre dies aber in jedem Falle der Fall.

Für all dies gäbe es natürlich eine Lösung, die Abschaffung der Erststimme. Ohne diese wäre Hankes Vorschlag nahezu in allen Punkten durchführbar. Aber dies wäre eine sehr grundlegende Wahlrechtsreform, und wir müssen uns fragen, ob wir das wirklich wollen. Die Erststimme hatte einmal den Sinn, Menschen, regional bekannte Persönlichkeiten, direkt vom Wahlvolk eines Wahlkreises, der nicht zu groß sein sollte, ins Bundesparlament wählen zu lassen, um die Verbindung zwischen Wahlvolk und Gewählten aufrecht zu erhalten, und das durchaus auf regionaler Ebene. Das ist das positive Element des Mehrheitswahlrechts, wie es in den USA und Großbritannien praktiziert wird. Aber die Zusammensetzung des ganzen Bundestages sollte sich nach dem parteienverhältnis richten, damit nicht wenige Stimmen Mehrheit ein ganzes Land oder eine ganze Region einer Partei zuschlagen, ohne dass die Unterlegenen berücksichtigt werden. Deshalb ist diese Mischform entstanden, und vermutlich auch, um Demokratie und Volksbeteiligung an Bundesgesetzen stärker zu fördern, um den Gedanken der Demokratie selbst in Deutschland hoffähig zu machen. Es ist ein besonderes und kompliziertes System. Die Frage, ob wir etwas daran ändern, kann man am besten durch die Frage beantworten, ob sich das jetzige System bewährt hat. Das scheint nicht der Fall zu sein, obwohl es durchaus viele Kontakte zwischen Bürgern und ihren Wahlkreisabgeordneten gibt. Allerdings werden diese Kontakte auch gern für Lobbyarbeit großer Interessenverbände genutzt. Eine Abschaffung der Erststimme würde zwar die von Franz-Josef Hanke gemachten Vorschläge durchführbar machen, an sich würde die Politik in den einzelnen Wahlkreisen aber wohl noch unpersönlicher, noch unnahbarer werden. Es gäbe keine Wahlkreiskandidaten mehr, die für ihre Partei werben und von den Wählern direkt gewählt werden könnten. Ob dies der Verankerung der Demokratie in der Bevölkerung zuträglich ist, bestreite ich.

Demokratie muss die Menschen motivierren, verlangt Franz-Josef Hanke, und damit hat er recht. Einige seiner Vorschläge sind meiner Ansicht nach sehr dazu angetan, das zu erreichen. Sei es die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene, die überfällig sind, sei es die Wahlkampfkostenrückerstattung an die Parteien, die sich nach den tatsächlichen Stimmenanteilen richten muss, sei es die mögliche Herabsetzung des aktiven Wahlalters. Bei der Einführung von
Volksentscheiden und bei der Frage des Wahlalters muss man allerdings die Manipulierbarkeit von Menschen und ihre Neigung berücksichtigen, momentanen Medienhypes zu folgen und sich leicht von einfachen, schnell vorgekauten Meinungen beeindrucken zu lassen. Und es muss bereiche geben, die einem Volksentscheid entzogen sind, nämlich die, die Menschenrechtspolitik, Sozial- und Teilhabepolitik und teilweise die Finanzpolitik betreffen. Auch sollte selbst die Mehrheit die Demokratie nicht abschaffen dürfen.

Ob ein aktives Wahlalter von 12 Jahren, wie Franz-Josef Hanke vorschlägt, gerade heute eine Bereicherung wäre, weiß ich nicht. Vorläufig würde ich mit 16 Jahren anfangen, und wenn sich dies bewährt, kann man es immer noch weiter absenken. Die Forderung Hankes nach erleichtertem Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft und doppelter Staatsbürgerschaften stimme ich vorbehaltlos zu.

Wenn wir unsere Demokratie retten wollen, müssen wir sie erlebbar machen, die Einflussmöglichkeiten der Bürger müssen zugleich mit unser aller Verantwortungsgefühl gestärkt werden. Zentrales Mittel der Einflussnahme sind nun einmal die Wahlen, und sie müssen aufhören, eine Farce zu sein. Vielleicht lesen ja ParteivertreterInnen diesen Dialog und ziehen daraus Ideen für die Zukunft.

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