Bevor ich die Geschichte erzähle, muss ich Folgendes klarstellen: Ich gehöre nicht zu der Sorte Menschen, die jedem unter zwanzig Boshaftigkeit, Ungezogenheit, Gemeinheit und dergleichen unterstellt. Grundsätzlich gebe ich jedem eine Chance, auch wenn er minderjährig und auf den ersten Blick zickig und/oder aggressiv erscheint. Allerdings gehöre ich auch nicht zu der Sorte Menschen, die finden, dass man sich, bloss weil man jung ist, jede Frechheit erlauben kann. Jetzt, wo dies gesagt ist, komme ich also zu meiner Geschichte:
Heute Morgen beschloss ich, mal wieder meine geringelte Strumpfhose anzuziehen. Offen gestanden ist sie ziemlich hässlich und meine Beine sehen auch nicht gerade vorteilhaft aus darin, aber es gibt dennoch Tage, an denen mir nach geringelten Strumpfhosen ist. Und ich bin der Meinung, dass man auch in fortgeschrittenem Alter tragen soll, worauf man gerade Lust hat. Dass einem diese Freiheit nicht von allen zugestanden wird, musste ich feststellen, als ich heute Nachmittag mal kurz ins Dorf ging. Eine Gruppe Jugendlicher – fünf Mädchen, ein Junge – fanden meinen bestrumpften Anblick so abstossend, dass sie nicht mit ihrem Gespött warten konnten, bis ich ausser Hörweite war. Anfangs kicherten sie bloss, was ich zwar ziemlich doof fand, aber noch ignorieren konnte. Als man mir aber mehrere freche Bemerkungen hinterherrief, fühlte ich mich gedrängt, zu reagieren.
Gut, ich reagierte nicht besonders freundlich, denn es war drei Uhr und ich hatte noch kein Mittagessen im Bauch und mit leerem Bauch kann ich ziemlich gereizt sein, wenn man mich anpöbelt. Dennoch finde ich, dass meine Reaktion noch im grünen Bereich lag: Sie sollten doch bitte erst mit ihrem Gespött anfangen, wenn ich ausser Hörweite sei, bemerkte ich. Das war offenbar zuviel. Ob ich etwas zu motzen hätte, wollte man von mir wissen. Ich wies die Gruppe darauf hin, dass ich es ziemlich daneben finden würde, wenn man lauthals über eine Passantin spotten würde, bloss weil einem die Strumpfhosen nicht gefallen würden. Worauf der junge Herr meinte: „Wenn du ein Mann wärst, ich würde dir die Fresse polieren.“ Dass ich diese Bemerkung ziemlich daneben fand, konnte er beim besten Willen nicht verstehen. Dafür aber liess er mich wissen, dass es eine Frechheit sei, dass ich ihn einfach so duzen würde. Und dann prasselten die Vorwürfe auf mich ein: Es sei eine Sauerei, dass ich hier im Vorbeigehen eine Gruppe unschuldiger Jugendlicher anpöbeln würde. Ich hätte ihnen überhaupt nichts zu sagen, ich sei ja nicht ihre Mutter. Ich sei ja vollkommen durchgedreht, dass ich mich nicht freundlich lächelnd für ihr Gespött bedankt hätte.
Ich weiss nicht, wie lange das Hickhack gedauert hat, aber am Ende war klar dass ich erstens eine intolerante Zicke bin, die glaubt, sie dürfe sich alles erlauben, dass ich zweitens kein Recht gehabt hätte, den Weg zu wählen, den ich gegangen war, dass ich drittens gefälligst wegzuhören hätte, wenn man gerade Lust hätte, lauthals über mich zu lachen und dass ich viertens endlich erwachsen werden solle. Nun gut, mag sein, dass es nicht besonders klug war, überhaupt auf die dummen Bemerkungen zu reagieren, aber muss ich mir denn alles gefallen lassen, bloss weil ich über dreissig bin und die irrige Meinung vertrete, dass ich a) anziehen darf, was ich will und b) mich zur Wehr setzen darf, wenn man mir allzu frech kommt?
Für mich wäre die Sache übrigens abgeschlossen gewesen, aber „Meiner“, der hin und wieder von seiner Italienischen Herkunft eingeholt wird, konnte es nicht auf sich sitzen lassen, dass man seine Frau beschimpft. Also machte er sich ohne mein Wissen auf, um die Jugendlichen zur Rede zu stellen. Und siehe da, ihm gelang, was ich nie und nimmer zu Stande gebracht hätte: Die sechs gaben kleinlaut zu, dass sie sich ziemlich daneben benommen hätten. Und jetzt frage ich mich natürlich, ob das daran liegt, dass „Meiner“ einfach den besseren Draht zu jungen Menschen hat, oder ob man eine zu kurz geratene Frau in geringelter Strumpfhose einfach nicht ernst nehmen kann.