Musikwissenschaft heute – Rückfall hinter Galilei

Galilei wirft die Kugeln vom Schiefen Turm zu PisaGerade stoße ich auf eine wissenschaftliche Arbeit über die Musiksprache Max Steiners. Der Autor, ein Musikwissenschaftler namens Peter Wegele, entblödet sich nicht, zu diesem Behufe ausgerechnet Casablanca zu analysieren.

Casablanca. Nicht etwa Gone with the wind, Max Steiners berühmteste Filmmusik. Sondern Casablanca. Und dies mit Bedacht: Max Steiner habe sich für diesen Film nämlich kaum interessiert. Schließlich stammte die Titelmelodie – das berühmte As time goes by – von einem anderen Komponisten: Herman Hupfeld.

Und Wegele folgert:

Je weniger ein Komponist sich mit einem Auftrag identifiziert, desto weniger wird er sich um neue Ausdrucksmöglichkeiten bemühen, sondern sich auf seine Routine und Techniken verlassen, welche sich dann wiederum umso leichter herausarbeiten und einordnen lassen.

Ein bemerkenswert bescheuerter Ansatz. Anstatt sich mit den aufregenden, stilbildenden Werken zu beschäftigen, betrachtet man lieber den langweiligen Abglanz. Statt das Fernrohr direkt auf die Sonne zu richten, wartet man, bis Wolken aufgezogen sind – das ist schließlich die typischere Situation. Reiner Sonnenschein ist ja so grell und verwirrend. Daher kann man bei trübem Himmel sicherlich die Charakteristik des Sonnenlichts viel besser verstehen.

Über diese beschränkte Geisteshaltung hat sich einst schon Galilei aufgeregt. Die Peripatetiker hatten ihn kritisiert, weil er auf den schiefen Turm von Pisa stieg und eine Holz- und eine Bleikugel runterwarf. Das sei untypisch, meinten die Aristoteliker. Die Natur mache so etwas nicht. Man dürfe keine Experimente machen. Man dürfe Situationen nicht zuspitzen, nicht das Außergewöhnliche betrachten, um Erkenntnisse zu gewinnen. Man müsse vielmehr auf das Allgemeine, Normale, Alltägliche blicken und daraus Regeln ableiten. Und sie taten es. Die Regeln waren leider meist wertlos und oft genug falsch.

Peter Wegele ist der Peripatetiker der Musikwissenschaft. Er spitzt nicht zu. Er analysiert nicht das Besondere. Er will auch nichts reproduzieren können. Und das ist für einen Komponisten ähnlich ärgerlich wie für einen Naturwissenschaftler die peripatetische Naturlehre. Denn der Komponist ist ebenso wie der Naturwissenschaftler gerade darauf angewiesen, Phänomene reproduzieren zu können. Ein Experiment, das sich nicht wiederholen lässt, ist für den Physiker wertlos. Ein Kontrapunktlehrbuch, das einem nicht erklärt, wie man Kontrapunkt schreibt, ist für den Musiker wertlos. Und Max Steiner zu analysieren, ohne dass das positive Konsequenzen fürs eigene Komponieren hätte, ist für den Komponisten wertlos.

Der Musikwissenschaftler und der Aristoteliker entziehen sich dem Anspruch der Re-Synthese. Der Aristoteliker will gar nicht vorhersagen können, wie sich Holz- und Bleikugel am schiefen Turm von Pisa verhalten. Der Musikwissenschaftler will gar nicht besser komponieren können. Beide wollen nur Papier vollschreiben. Welches allerdings geduldiger ist als ich. Darum: Abtreten, Herr Wegele.


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