MUSIC | Nisse im Interview

In der Kantine am Berghain tanzten und sangen wir ausgelassen beim Konzert von Nisse. Eine Woche später durfte ich den sympathischen Wahlberliner zum Interview treffen - 60min. lang. Hier sind für euch die interessantesten Ausschnitte.

Du kamst auf die Bühne. Die Leute fingen an zu jubeln und du senktest den Kopf, hieltst die Hand vor dein Gesicht. Du sahst ganz verlegen aus, fast schon überfordert. Was ging dir in diesem Moment durch den Kopf?

Das habe ich überhaupt nicht erwartet. So eine Mischung. Ich dachte, das war so unreal. Ich bin bisher auf zwei Veranstaltungen in Berlin aufgetreten. Beide waren sehr branchenlastig. Da stehen die Leute eher so [verschränkt seine Arme] und denken "na mal gucken". Das ist für mich dann natürlich schwierig. Und bei diesem Konzert habe ich überhaupt nicht damit gerechnet, auch nicht, dass so viele Leute da sind, die Geld dafür ausgeben würden mich zu sehen. Das fand ich echt krass. Und nicht nur das. Sondern, dass sie von vorn herein schon so gut drauf waren, als ob das Konzert schon gelaufen und gut war. Und das hat mich ... ja schon fast überfordert. Es war schon sehr speziell. [lacht]

Ich will Musik machen - ganz unabhängig von irgendwelchen Szenen.

Dein Debüt-Album "August" kam vor ein paar Wochen raus. Wieso hat das verdammte sieben Jahre gedauert?

Ich habe 1998/99 angefangen zu rappen und das acht bis neun Jahre lang gemacht und irgendwann war ich an dem Punkt angekommen, an dem ich akzeptiert habe, dass es mehr oder weniger nur ein Hobby ist. Die Szene damals war auch komisch. In Hamburg war es schwierig und aus Hamburg selbst kam ja, bis auf eine große Ausnahme, auch niemand mehr nach der großen Eimsbusch-Zeit [Anmerkung: Eimsbusch Entertainment war ein Hamburger Hip Hop Label, das 1997 von Jan Eißfeldt (Künstlername: Jan Delay) gegründet wurde. Im September 2003 meldete das Label Insolvenz an]. Direkt nach dieser Zeit tauchte dann Aggro Berlin auf und alles wurde härter und da habe ich dann den Zugang zur Szene verloren, wollte aber dennoch weiter Musik machen. Als Kind habe ich viel Super Tramp, Rio Reiser und vor allem Michael Jackson gehört und wollte seither auch richtig singen. Also habe ich zuerst eine Art Zwischenalbum gemacht, wo noch viel Rap-Technik dabei war. Das war 2007 oder 2008. Nachdem ich dieses erste Demo-Album selbst und nur für mich produziert hatte, stellte ich fest, dass ich viel mehr singen möchte und dass ich nur Songs schreiben will auf die ich Lust habe - ganz unabhängig von irgendwelchen Szenen. Und ein paar Songs aus dieser Zeit sind heute auf meinem Album.

Für mich hört sich das alles gleich an. So einen Andreas-Bourani-Song könnte auch ein Tim Bendzko oder Adel Tawil singen.

Es gibt Leute, die machen zwei Jahre Musik und sagen dann "Hier sind 50 Songs, jetzt will ich bekannt werden und gehe los und suche mir jemanden der sie rausbringt". Im schlimmsten Fall werden diese Songs dann so wie sind übernommen und werden relativ schnell veröffentlicht, aber ich finde, vieles klingt dann einfach noch nicht fertig. Die Leute haben keine Stimme oder sie haben keine Bedeutung in den Gefühlen, die sie ausdrücken wollen oder sie haben noch nicht ihren eigenen Stil beim Schreiben gefunden. Für mich hört sich das dann alles gleich an. Ohne jetzt gegen die Künstler an sich etwas zu sagen, aber so einen Andreas-Bourani-Song könnte eventuell auch ein Tim Bendzko oder ein Adel Tawil singen. Ich kann dir aber einen Sido-Song zeigen, einen von Grönemeyer. Gib mir einfach acht Zeilen und ich kann dir höchstwahrscheinlich deuten wer das ist. Natürlich gibt es nicht bei jedem eine unfassbare Einzigartigkeit aber im Großen und Ganzen gibt es einen Stil zu schreiben und sich auszudrücken. Und bei sehr vielen ist es eben so, dass sie nicht selbstbestimmt genug sind. Oder andere Leute schreiben für sie, die auch für alle anderen fünf schreiben, die so ähnlich klingen könnten.

Das könnte die einzige wahre Chance in meinem Leben sein.

Obwohl ich meine Songs relativ früh fertig hatte, waren sie für mich noch nicht fertig genug und so, dass ich mich gewagt hätte rauszugehen und ernsthaft zu sagen ich möchte eine Platte machen, ich möchte auf ein Label zugehen und die müssen da ganz viel Geld reinstecken. Es gibt ein Risiko auf beiden Seiten. Ich muss alles was ich vorher gemacht habe aufgeben, von Hamburg nach Berlin ziehen, Dinge aufgeben, Risikos eingehen. Das könnte die einzige wahre Chance im Leben sein. Dieser eine Schritt.

Ich bin erst zufrieden, wenn ich glaube, dass könnte kein anderer den ich kenne geschrieben haben.

Ich fand, ich klang noch nicht gut genug. Meine Stimme hat mir selbst noch nicht so gut gefallen, auch nicht meine Art zu schreiben. Den Song "Ich fahr" habe ich bestimmt zwanzig mal umgeschrieben. Manchmal war es nur ein einzelnes Wort. Anfangs hätten ihn auch fünf andere singen können. Ich wollte ihn aber so schreiben, dass er nur zu mir und meiner Situation passt. Vor drei Jahren habe ich das nicht geschafft, jetzt weiß ich aber, was ich schreiben muss. "Ewigkeit, Regen, Wir, Feuer, Liebe oder Herz" wird viel verwendet in deutschsprachiger Musik. Ich benutze auch relativ häufig "Liebe" und "Herz", aber man muss drum herum so viel rumspinnen, damit es eine Eigenheit wird. So wie bei "Herzen aus Stein", das haben schon tausend andere vor mir gesagt, aber dieses Bild daraus zu erschaffen, zwei gefühlskalte Menschen, die schon gar nicht mehr an die Liebe glauben und erst als sie aufeinander treffen oder schlagen, wie zwei Feuersteine, das eine Wärme entsteht, Funken sprühen ... Das ist ein interessantes Bild und so habe ich es noch nicht gehört. Und erst wenn ich ein Bild habe, von dem ich glaube, es so noch nicht gehört zu haben, oder denke, das könnte kein anderer den ich kenne geschrieben haben, bin ich zufrieden. Bei "Ich fahr" ist es so mit "Kerosin". Andere würden über "Feuer" reden. Aber wenn man "Kerosin" in einem Pop-Song singt und man es einigermaßen so hinbekommt, dass es gut klingt und von der Geschichte her Sinn macht und vom Gefühl auch, dann passt es. Und "Kerosin" war so ein Wort nach dem ich lange gesucht habe, deshalb hat auch der Song entsprechend lang gebraucht und so lang hat das Album dann am Ende auch gebraucht. Es hat einfach gedauert bis ich mich selbst und meine Sprache, meinen Schreibstil gefunden hatte und bis mein Gefühl und mein Empfinden damit raus in die Welt zu gehen stimmte.

Ich finde diese ganzen Netter-Junge-von-nebenan-Images sind völliger Bullshit. Die, die wie das Schwiegersohn-Traumbild scheinen, sind die größten Arschlöcher.

Das klingt sehr durchdacht und gut überlegt ...

Ja, ich hatte einfach auch Schiss. Ich finde viele Sachen nicht gut, aber bevor ich mit dem Finger auf andere Leute zeige, muss ich mich wirklich sehr stark davor hüten, dass ich nicht selbst das gleiche nur in blau mache und denken, ich könnte mich über die Dinge stellen. Das möchte ich einfach nicht tun. Aber jetzt in diesem Moment habe ich es mir einfach erarbeitet in gewissen Bereichen eine eigene Meinung zu haben. Ich finde diese ganzen Netter-Junge-von-nebenan-Images sind völliger Bullshit. Meistens sind die sogar die schlimmsten. Die, die wie das Schwiegersohn-Traumbild scheinen, sind die größten Arschlöcher. Das sind die, die im Fernsehen und in ihren Songs ganz besonders cool und romantisch rüberkommen. Und ich nehme denen das erstens nicht ab, weil ich es nicht fühle, wenn sie es singen und zweitens, weil ich auch auch drum herum weiß, dass es nicht so ist. Aber erst in dem Moment, wo ich es besser mache kann ich auch etwas darüber sagen. Ansonsten wäre ich nur jemand der für sich selbst etwas zurecht spinnt oder mit Freunden darüber reden darf. Spreche ich aber in einem Interview darüber, kann ich auch begründen wieso ich so denke und warum das alles so ist. Ich könnte auch mit jedem von denen in einen Raum gehen, mit den zehn krassesten Sängern meiner Generation, zwischen 25 und 35 Jahren, und ich bin, bis auf ein oder zwei Ausnahmen, der einzige der die Geschichte hinter seinen Songs erzählen kann. Ich höre die Alben der anderen und kenne die Person danach nicht. Ich habe keine Ahnung, wer Andreas oder Tim oder wie die alle heißen sind. Das sind einfach nur Worte auf Musik. Es ist zwar sehr gut gemacht und hat auch irgendwo seine Berechtigung, aber ich selbst finde dazu keinen Bezug. Ich fühle nichts dabei und das finde ich schade.

Also ist Musik für dich tatsächlich immer noch eine Art dich selbst auszudrücken? Eine ehrliche Sache?

Ja! Wenn nicht das, was denn dann?

Nichts ist ehrlich. Fast alles was uns umgibt, außer Freundschaft und Famile und ein paar wenige andere Dinge, ist nicht ehrlich. Schau die irgendein Cover an. Das ist doch alles mit Photoshop gemacht. Das ist alles Werbung um uns herum, das ist Politik, die uns falsche Versprechen macht, in Filmen, wie die Leute aussehen, wie sie spielen, wie es wirkt, wie schnell sie rennen können, wie weit sie springen. Egal was es ist. Nichts ist wirklich echt. Aber beim Film gibt es ein Set, ein großes Cast und man weiß, es ist alles eine riesige Illusion. Die Leute wollen unterhalten werden. Wenn ich mir eine Show von Madonna anschaue, weiß ich, dass es zum Großteil unrealistisch ist, was dort gemacht wird. Wenn sie durch den Raum schwebt, weiß ich, dass da ein Seil an ihr befestigt ist. Es ist schön, sich auf gewisse Dinge einfach einzulassen und sich darin fallen zu lassen, den Alltag zu vergessen. Man wird gerne belogen.

Es ist ein Ventil für meine Gefühle, wenn ich da jetzt anfange rumzukünsteln oder zu schminken, dann könnte ich keine Musik machen.

Doch bei anderen Dingen und da gehört die Musik für mich dazu, muss es echtes Gefühl sein. Was die Show drum herum betrifft, ich bin auf meinem Cover bestimmt auch mit Photoshop bearbeitet, ist Illusion ok. Im Grunde ist es ja so: ich will etwas echtes machen, wenn um mich herum schon so viel unechtes geschieht. Es ist ein Ventil für meine Gefühle, wenn ich da jetzt anfange rumzukünsteln oder zu schminken, dann könnte ich keine Musik machen. Dann kann ich gleich in eine Werbeagentur gehen oder mit Geschmacksverstärkern in der Lebensmittelindustrie spielen. Von den wenigen Dingen die wir zu uns nehmen können, sei es Nahrung, etwas visuelles oder eben Musik, finde ich es sehr sehr wichtig, dass es echt ist in diesem ganzen unechten Plastik.

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