Zur fotografischen Sammlung des Münchner Stadtmuseums gehören außergewöhnliche Industriefotografien. Bis zum 11. September 2011 wird eine Auswahl von 150 Aufnahmen erstmals öffentlich gezeigt und damit die Entwicklung der Industriefotografie von den Anfängen bis zur Gegenwart nachgezeichnet. Leihgaben aus Privatsammlungen und eine Auswahl von Fotobüchern zur Industriefotografie ergänzen die Ausstellung.
Ausstellungsankündigung
Im Zeitalter der Industrialisierung hat sich mit der Industriefotografie ein neues Genre entwickelt, dem sich viele bedeutende europäische Fotografen im Auftrag von Eisenbahngesellschaften, Bauträgern, Ingenieuren oder Unternehmen zuwandten. Ab 1855 entstanden fotografische Dokumentationen, zum Teil über mehrere Jahre hinweg, im Eisenbahn-, Straßen- und Brückenbau. Obwohl sich diese Aufnahmen mittlerweile im Kunsthandel großen Interesses erfreuen, war der ursprüngliche Zweck und Gebrauchswert der Fotografien klar umrissen: Die Dokumentation der verschiedenen Bauzustände bei der Konstruktion einer Brücke, Eisenbahntrasse oder Wasserstraße sollte Architekten, Ingenieuren und Bauherren, die den Arbeiten nicht ständig vor Ort beiwohnen konnten, über deren Fortgang informieren. Zudem verwendete man die Fotografien als Produktwerbung auf Industrie- und Weltausstellungen. Man kann davon ausgehen, dass wohl jede größere Baumaßnahme im Verkehrswesen im 19. Jahrhundert Gegenstand einer fotografischen Kampagne gewesen ist, auch wenn sich die entsprechenden Bilder nur in wenigen Fällen erhalten haben.
Die früheste bekannte Darstellung eines Industriewerkes in der Geschichte der Fotografie verdanken wir einer in der Ausstellung gezeigten Daguerreotypie der Franzosen Choiselat und Ratel aus dem Jahr 1845. Neun Jahre später war es der königliche Hoffotograf Franz Hanfstaengl, der die Entstehung der spektakulären Glas-Stahl-Architektur des Münchner Glaspalastes und die erste Allgemeine Deutsche Industrie-Ausstellung in mehr als 20 großformatigen Ansichten festhielt. Andere Aufnahmen zeigen Fabriken und Industriebauten, die heute längst durch zeitgenössische Architektur ersetzt worden sind. Davon zeugt beispielsweise Georg Böttgers spektakuläres zweiteiliges Panorama einer Lederfabrik in München-Giesing, um 1865.
Immer wieder übernahmen Fotografen die Aufgabe, den technischen Fortschritt wirkungsvoll zu bestätigen, etwa durch die Dokumentation von Materialbelastungsproben, die anlässlich neu vollendeter Eisenbahnbrücken notwendig waren. In Süddeutschland hatten sich Joseph Albert, Franz Hanfstaengl und Georg Böttger auf dieses Metier spezialisiert. Böttger fotografierte Ende der 1860er Jahre zunächst die Donaubrücken in Bayern, dann ab 1877 den Bau der Fichtelgebirgsbahn. In der Schweiz war Adolphe Braun aus Dornach tätig, um die Errichtung und Vollendung des St. Gotthard-Tunnels zwischen 1875 und 1880 zu erfassen. Viele Aufnahmen zeigen, dass die gewaltigen Erdaushebungen und die Abholzung von Wäldern für den Bau der Brücken und Streckentrassen die Naturlandschaft dramatisch verändert haben. Berge wurden von Tunnels durchbrochen, Hügel wurden abgetragen, um eine möglichst gradlinige Streckenführung zu ermöglichen. Trotz dieser massiven Eingriffe in die Natur haben die Fotografen das moderne Bauwerk gewöhnlich so wiedergegeben, dass es mit der Landschaft zu einer romantischen, stimmungsvollen Idylle verschmolz. Oft wirken die Eisenstahlbeton-Konstruktionen sogar monumentaler und erhabener als die Landschaft, die vor allem eine Kulisse für den menschlichen Erfindungsgeist bieten sollte. Gelegentlich posieren zur Staffage Ingenieure und Architekten, die sich in ihrem bürgerlichen Habitus von den Erdarbeitern erkennbar unterscheiden. Was in den Aufnahmen wie ein Abbild der hierarchischen Verhältnisse in der modernen Industriegesellschaft anmutet, erweist sich in seltenen Fällen als realistische Darstellung der Arbeitswelt.
Zu den industriellen Großprojekten im 19. Jahrhundert zählte auch der Ausbau von Flüssen zu Wasserstraßen. Die Bauarbeiten am Suez- oder Panama-Kanal wurden von Fotografen, die oft anonym geblieben sind, in Langzeitdokumentationen begleitet. Aber auch kleinere Baumaßnahmen wie die Befestigung des Isar-Ufers im Jahre 1893 wurden fotografisch wiedergegeben. Exemplarisch wird in der Ausstellung die Dokumentation von der Neuregulierung der Weichselmündung vorgestellt, die der Danziger Fotograf R.Th. Kuhn zwischen 1889 und 1895 realisierte. Den Höhepunkt der aufwendigen Flussregulierung bildete der Durchstich eines 500 Meter breiten Nehrungsdammes bei Schiewenhorst am 31. März 1895. Das Ereignis ist vom Fotografen im halbstündlichen Abstand mit der großformatigen Holzkamera in Serien-Aufnahmen festgehalten worden. In ihrer sachlichen Nüchternheit und Vorliebe für unspektakuläre Motive wirken diese Landschaftsaufnahmen ausgesprochen modern und scheinen die Arbeiten jener Fotografen vorwegzunehmen, die sich ab 1970 unter der Bezeichnung „New Topographics“ mit dem Erscheinungsbild der modernen Industrielandschaft beschäftigt haben.
Im Unterschied dazu wirken die Kompositionen der Kunstfotografen um 1900 anachronistisch. Sie bemühten sich um eine atmosphärische Interpretation der Industrie in Orientierung an Vorbilder wie der altniederländischen Landschaftsmalerei und der Haager Schule.
Nach 1918 treten der Bergbau und die Stahlgewinnung als Sujets in Fotografien zunehmend in Erscheinung. Ende der 1920er Jahre, in der Hochphase der Industrialisierung, schuf Heinrich Hauser erste zusammenhängende Fotoreportagen über das Ruhrgebiet.
Die Vertreter der neusachlichen Fotografie entdeckten die Schönheit nüchterner Fabrikanlagen, technischer Zweckbauten und industriell hergestellter Produkte als Sujet für ihre direkten, sachbezogenen Aufnahmen, die ab 1959 Bernd und Hilla Becher als Vorbilder für ihre systematische Erfassung von Industriebauten des 19. und 20. Jahrhunderts dienen sollten. Im Kontext seiner breit angelegten Gesellschaftsstudie der Weimarer Republik, die auf die Reflexion des Individuellen in Beziehung zum Typischen abzielte, porträtierte August Sander auch Fabrikarbeiter. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde das Bemühen um vorurteilsfreie und wirklichkeitsnahe Darstellung des Industriearbeiters von der pathetischen Beschwörung von „Helden der Arbeit“ abgelöst.
Industriefotografien der Zeit nach 1945 von Erich Angenendt, Thomas Höpker, Robert Lebeck, Stefan Moses und Alfred Trischler sind prägnante Beispiele für das bundesrepublikanische Wirtschaftswunder aber auch des Niedergangs der Schwerindustrie. 1953 fotografierte Peter Keetman in Wolfsburg die Montage des VW-Käfers als kalt schimmerndes Glückssymbol der prosperierenden Nachkriegsrepublik. Wie die anderen Vertreter der „subjektiven Fotografie“ Otto Steinert, Toni Schneiders oder Ludwig Windstoßer war Keetman nicht primär an der dokumentarischen Wiedergabe der Produktionsanlagen und -prozesse interessiert, sondern an der Ästhetik des Seriellen, Strukturellen, oder in den Worten der „Subjektiven“: an der „Schaffung eigenwertiger künstlerischer Produkte“.
Den Ausstellungsparcours beschließen einige zeitgenössische künstlerische Positionen wie Jürgen Nefzger oder Joachim Brohm, der von 1992 bis 2002 im Münchner Norden die Verwandlung eines brachliegenden Industrieareals zur Wohn- und Bürostadt dokumentierte.
Quelle: Münchner Stadtmuseum
Ausstellungskatalog
Zur Ausstellung erscheint ein umfangreich bebilderter Katalog im Ernst Wasmuth-Verlag Berlin mit Aufsätzen von Ulrich Pohlmann und Rudolf Scheutle.
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Wann und wo
Münchner Stadtmuseum
St.-Jakobs-Platz 1
80331 München
15. April 2011 bis 11. Septemper 2011
Begleitend zeigt das Filmmuseum im Münchner Stadtmuseum am Donnerstag, den 21. April 2011 Filme von Willy Zielke zum Thema – u.a. „Das Stahltier“ (1935).