München: Die morbide Attraktivität von Giesing

München: Die morbide Attraktivität von Giesing

Fans des Zweitligisten 1860-München gegen Mietsteigerungen in Giesing

München Giesing südlich der Innenstadt, gleich beim 1860-Stadion gelegen, galt lange Zeit als die letzte proletarische Schmuddelecke der bajuwarischen Hauptstadt. Statt Latte-Macciato-Cafés und Cocktail Bars gab es noch traditionelle Boazen (Kneipen), statt repräsentativen Gründerzeitgebäuden ist das Viertel vom Siedlungsbau der Nachkriegszeit geprägt und die preiswerten Mieten ermöglichten es überdurchschnittlich vielen einkommensschwachen Haushalten dort eine Wohnung zu beziehen.  Noch vor ein paar Jahren galt das Quartier als nicht-gentrifizierbar und wurde 2005 im Rahmen der Sozialen Stadt sogar zum „Stadtteil mit besonderem Entwicklungsbedarf“ ausgewiesen.

Vor allem Immobilienentwickler und kaufkräftige Nachfrageschichten haben das mit dem ‘besonderen Entwicklungsbedarf ‘ offenbar als Aufruf verstanden, das Gebiet in kurzer Zeit nachhaltig zu verändern. Längst macht auch das Schlagwort der Gentrification die Runde: Das Münchener Wochenblatt fragt, „Wird Geising Gentrifiziert“ und auch die taz beschreibt die „Gentrifizierung in Giesing. Avantgarde und Ausverkauf„.

Folgt man der Argumentation von Michael Gill, ist es vor allem der raue Charme des Quartiers, der die jungen Mittelschichtsangehörigen ins ehemalige Arbeiterviertel lockt. So werden makabre Tragödien und das Image als Scherbenviertel in Party-Events transformiert. Die jungen Kreativen spielen „Mord in Giesing – Münchens aufregendstes Stadtabenteuer“:

Neulich gab’s mal wieder Tote in Untergiesing. Am Hans-Mielich-Platz hatte man, es war schon gegen Abend und dunkel, rote Scheinwerfer aufgebaut, um die Szenerie auszuleuchten. In einem Laden namens „Café Lü“, der tagsüber seit einiger Zeit Kreativenfutter wie Reis-Ingwer-Kreationen und kreolischen Garnelen-Salat feilbietet, drängten sich Studentinnen, die allesamt aussahen, als würden sie als Berufsziel „irgendwas mit Medien“ angeben. Die Party lief auf vollen Touren, schließlich ereignete sich hier gerade „Mord in Giesing – Münchens aufregendstes Stadtabenteuer“, eine Art Schnitzeljagd-Event für Erwachsene.

Die Gentrifier von heute sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Statt repräsentativer Bebauung und Geschichtsträchtigkeit reichen inzwischen ein bisschen Kriminalgeschichte um das Gefühl der Authentizität zu vermitteln.

Michael Gill beschreibt in seinem lesenswerten Artikel im Kultur Vollzug (das digitale Feuilleton für München) die proletarische Ausstrahlung des Viertels als Ausgangspunkt der aktuellen Veränderungen: „Oberklasse sticht Untergiesing„.

Als Beispiel für den etwas morbiden Humor der Bewohner/innen beschreibt er einen tragischen Todesfall eines Selbstmörders, der sich aus einem Fenster direkt auf die Freifläche eines kleinen Cafés am Jakob-Gelb-Platz stürzte. Während Polizei und herbeigerufene Rettungswagen hektisch durch die Gegend fuhren, bleiben die Gäste im Biergarten der mittlerweile geschlossenen Wirtschaft Burg Pilgersheim gelassen:

Sie beobachteten das An- und Abfahren der Rettungsfahrzeuge, berichteten den Passanten auf dem Bürgersteig durch den Zaun hindurch, was sie da gerade gesehen hatten, bestellten noch ein Bier und beschlossen, das Café von gegenüber von nun an Café Springer zu nennen.

Der Autor sieht darin ein Beispiel für eine

Mischung aus proletarischer Herzlichkeit, altmünchner Derbheit und angeschmuddeltem Multikulturalismus

die das Viertel trotz der wenig repräsentativen Baustruktur mittlerweile für ein Klientel von jüngeren Besserverdienenden attraktiv gemacht hat.

Kreative Unternehmer und Künstler vermuten hier das künftige In-Viertel der Landeshauptstadt und ziehen in die Ladengeschäfte und Wohnungen, Investoren erkennen den Trend und beginnen mit Immobiliengeschäften, wie sie in solchen Fällen üblich sind: Kaufen, sanieren, teurer verkaufen – mit allen Folgen.

Auch in dem seit April 2010 laufenden Blog Unser Viertel werden die aktuellen Veränderungen im Quartier zusammengefasst. Im Vordergrund der Berichterstattung und der Proteste stehen hier jedoch weniger die Neuhinzugezogenen mit ihren Authentizitäts-Projektionen als vielmehr der wohnungswirtschaftliche Kern der Aufwertung: Eigentümerwechsel, Bau von Luxuswohnungen und Mieterhöhungen.

Alte Wohnhäuser und Gebäude wie das Agfa-Gebäude werden abgerissen und Wohnanlagen mit gehobenem Niveau gebaut. Traditionelle Boazen wie die Burg Pilgersheim werden verkauft und zu Szenekneipen umgestaltet. Außerdem wird immer häufiger bekannt, dass Mieten ohne erkennbaren Grund erhöht werden. In einem dieser Fälle geht es um mehrere Wohnblöcke in Untergiesing: Diese waren ursprünglich städtisches Eigentum und wurden vor kurzem an einen privaten Investor, die sogenannte „RockCapital Grünwald“ verkauft, der postwendend die Mieten um 20% erhöhte.

In Giesing haben sich verschiedenen Initiativen gebildet, die gegen die drohende Verdrängung aus dem Stadtviertel mobilisieren. Im September fand im temporär als Kunstzentrum genutzten Hertie-Kaufhaus (Puerto Giesing) eine Veranstaltung mit etwa 150 Teilnehmer/innen statt. Der Beitrag „Mit Marx gegen die Gentrifizierung“ von Michael Gill (Kultur Vollzug) gibt einen ganz lebendigen Eindruck der Veranstaltung und der auf dem Podium vertretenen Positionen:

  • Judith Schützendorf von den Grünen im örtlichen Bezirksausschuss nannte die bekanntesten Beispiele für Gentrifizierung in Untergiesing: Das von einem Haussanierer erzwungene Ende der beliebten Wirtschaft „Burg Pilgersheim“, die Schließung der letzten unabhängigen Bäckerei, die Übernahme der Wohnblocks am Candidplatz durch den Grünwalder Investor „Rock Capital“ samt saftiger Mieterhöhung.
  • Stefan Burger, Mitinitiator der Bürgerinitiative „Rettet die Birkenau“ fragte: „Wollen wir, dass München sich in einen einzigen Arnulfpark verwandelt?“ Schließlich habe die von Investoren betriebene Zerstörung der gewachsenen Stadtviertelstrukturen inzwischen ein atemberaubendes Tempo erreicht.
  • Chris Feilitz, Redakteur der Stadtteilzeitung „Unser Giesing“ forderte den „Kampf um generelle Veränderungen“: Grund- und Boden dürften nicht Spielzeug für Finanzhaie sein, die außer immer mehr Geld keine anderen Ziele hätten.
  • Sabine Herrmann, Mitinitiatorin des Wohnprojekts Ligsalz 8 im Westend, stellte dessen Genossenschaftsmodell als Alternative vor – und alle zusammen forderten: Bürger, werdet aktiv, lasst euch nicht alles gefallen, wehrt euch!

Ich war auch dabei und durfte ein paar allgemeine Erklärungen zum neuen stadtpolitischen Kampfbegriff zum Besten geben und war offenbar auch für den ‘Marx’ im Titel des Beitrags verantwortlich.

Zum eigentlichen Thema des Abends hatte der Berliner Sozialwissenschaftler Andrej Holm am meisten zu sagen…

Sozialwissenschaftler Holm wusste, was praktisch zu tun wäre: Die Kommunen könnten mit Erhaltungssatzungen und Kündigungsschutzklauseln viel erreichen – „man muss diese Instrumente aber auch anwenden“. Und das deutsche Mietrecht biete viele Möglichkeiten, sich gegen Vertreibung zu wehren – wenn die Mieter mutig seien, und sich etwa mit einer Rechtsschutzversicherung oder einer Mitgliedschaft in einem Mieterschutzverein für einen Kampf mit Investoren rechtzeitig wappnen würden. „Schon Karl Marx sagte: Das Kapital ist wie ein scheues Reh“, sagte Holm. Und fügte an: „Manchmal muss man das Reh eben aufscheuchen.“

Die offenen Frage in Giesing bleibt das Wie des Aufschreckens – wenn selbst Mord und Totschlag in eine symbolische Aufwertungsstrategie integriert werden können.



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