Was waren die Themen? Was sind die neuen Entwicklungen? Was gibt es zu berichten?
Am Samstag 2. Februar 2013 fand im grossen Hörsaal der Universität Basel der MS-Informationstag «Aus der Forschung für die Praxis» statt. Dieser, wie schon die vergangenen Jahre, gut besuchte Anlass wird vom Universitätsspital Basel zusammen mit der Schweizerischen MS-Gesellschaft organisiert und von den Pharmaunternehmen Bayer Schering, Biogen-Idec, Merck Serono, Novartis und Teva Pharma unterstützt. Die diesjährigen Themen waren:
- Begrüssung (Prof. Dr. Ludwig Kappos, Uni Basel)
- OCT: der Blick ins Gehirn (PD Dr. Konstantin Gugleta, Uni Basel)
- MS, Stress und Depression: das nervt (Prof. Dr. Pasquale Calabrese, Uni Basel)
- Die dritte Säule in der MS-Therapie – Sativex, Fampyra und Co (Dr. Marcus D’Souza, Uni Basel)
- Neues von der MS-Gesellschaft (Dr. Christoph Lotter, MS-Gesellschaft)
- Wer impft, gewinnt (Prof. Dr. Tobias Derfuss, Uni Basel)
- Was ändert sich durch die neuen Medikamente? (Prof. Dr. Ludwig Kappos, Uni Basel)
- Diskussion (Beantwortung von schriftlich gestellten Fragen)
Prof. Dr. Kappos moderierte den Anlass.
OCT: der Blick ins Gehirn
Der Augenarzt Dr. Konstantin Gugleta stellte mit eindrücklichen Bildern die optische Kohärenztomografie (engl. optical coherence tomography), kurz OCT und deren Anwendung bei Multiple Sklerose (MS) vor. OCT ermöglicht die Anfertigung von hochauflösenden Schnittbildern (3D-Tomografien) mit einer zum histologischen Bild vergleichbaren Qualität. Die OCT funktioniert analog zu Ultraschall, aber mit Licht. Aus Platzgründen werde ich in einem eigenen Artikel näher auf die spannende optische Kohärenztomografie (OCT) eingehen.
Dr. Konstantin Gugleta deklarierte ohne Interessenkonflikte zu sein.
MS, Stress und Depression: das nervt
Prof. Dr. Pasquale Calabrese räumte in seinem witzigen Vortrag mit falschen Mythen über Stress auf.
Stress ist grundsätzlich schädlich. Stress ist eine nützliche körperliche und psychische Funktion.
Stress ist eine Zivilisationskrankheit. Auch Höhlenmenschen hatten schon Stress. Man denke nur an Mammutjagt oder Säbelzahntigerangriffe.
Stress entwickelt sich überwiegend im Beruf. Stress gehört zum Leben.
- Stress (engl. für „Druck, Anspannung“; lat. stringere: „anspannen“)
- bezeichnet zum einen durch spezifische äussere Reize (Stressoren) hervorgerufene psychische und physische Reaktionen bei Lebewesen, die zur Bewältigung besonderer Anforderungen befähigen, und zum anderen die dadurch entstehende körperliche und geistige Belastung.
Es spielt also nicht nur der äussere Reiz eine Rolle, sondern auch die Wahrnehmung und Reaktion durch die Person.
Der Weg vom Alarmsystem bis zur Reaktionsauslösung wird als Stressachse bezeichnet. Bei Stress werden verschiedene Hormone ausgeschüttet. (Cortison ist eines dieser Stresshormone).
Leistungsfähigkeit und Stress | CC BY-SA Patientensicht.ch
Stress ist also nicht per se schlecht. Neben einem Zuviel an Stress (Distress/Hyperstress)), kann es auch ein Zuwenig an Stress (Hypostress) geben. Ohne eine gewisse Aktivierung, ohne ein gewissen Druck bewegt man sich nicht. Der optimale Bereich wird als Eustress bezeichnet. Es verhält sich ähnlich wie beim Beinbruch. Früher hat man das Bein eingegipst und vollkommen entlastet. Heute schützt man es und lässt eine gewisse Belastung zu. Die Verheilung läuft so besser und schneller.
Eine dauernde Aktivierung ohne Entlastung, ein Dauerstress macht jedoch krank. Es kann zu Fehlverschaltungen kommen. Stress kann Depressionen auslösen. Stress kann durch dämpfende Massnahmen reguliert oder durch vorbeugende Massnahmen verhindert werden.
Stress und Depressionen können bei MS aber auch organisch durch Läsionen ausgelöst werden, beispielsweise wenn das Regulationssystem geschädigt wird.
Das Wohlbefinden eines Menschen hängt von verschiedenen Faktoren ab:
- Wertschätzung, soziale Unterstützung
- Sinnhaftigkeit, Abwechslung, Gefühle
- Mitsprache
- Handlungs- und Entscheidungsspielraum
- (Berufliche) Aktivität
Insgesamt ist es ein komplexes Regulationssystem.
Er machte keine Angaben über Interessenkonflikte.
Die dritte Säule in der MS-Therapie – Sativex, Fampyra und Co
Bei MS gibt es drei Klassen von Medikamenten:
- Medikamente mit dem Ziel der Verringerung der Schubhäufigkeit und der Progression,
- Schubtherapie mit Cortison und
- Symptomatische Therapie zur Verringerung und Linderung der Symptome.
Dr. Marcus D’Souza ging auf die neuen Medikamente bei der symptomatischen Therapie ein. Sie verändern den MS-Krankheitsverlauf nicht, aber sie haben das Ziel die Lebensqualität zu verbessern.
- 4-Aminopyridin / Fampridin / Fampyra® (EU) / Ampyra® (USA)
- Dieses Medikament soll die Nervenleitung verbessern und so beispielsweise die Gehfähigkeit verbessern. Das Medikament wirkt bei einem Drittel der Patienten, das heisst es wirkt also bei zwei Dritteln nicht. Als Nebenwirkungen1 wurden bisher Harnwegsinfektionen und Auslösung von epileptischen Anfällen festgestellt.
- Sativex® (EU/USA)
- Dieses Medikament beruht auf den Wirkstoffen (THC und CBD) von Hanf und dient der Schmerzlinderung. Hanf wurde schon bei den alten Chinesen zur Schmerzreduktion eingesetzt. Hanf war bis zum Aufkommen von Aspirin® das am häufigsten eingesetzte Schmerzmittel. Mit dem Aufkommen der Hippiebewegung kam Hanf in Verruf. Sativex® wird in die Mundhöhle gesprayt.
- Dronabinol
- Dronabinol beruht ebenfalls auf Hanf. Es enthält im Gegensatz zu Sativex® nur THC.
Alle drei Medikamenten sind in der Schweiz noch nicht zugelassen. Ein Einsatz ist auf Verschreibung möglich (Off-Label). Die Kosten von monatlich bis 1000 Franken werden jedoch nicht automatisch von der Krankenkasse übernommen.
Neues von der MS-Gesellschaft
Dr. Christoph Lotter der MS-Gesellschaft informierte über die verschiedenen Angebote und Aktivitäten der MS-Gesellschaft:
- Case Management: Die Fallbetreuung hat sich etabliert und wird auch von Unternehmen genutzt.
- Psychologische Unterstützung: Ein über die Schweiz verteiltes Netz von 130 Fachpersonen wurde, unter Mithilfe von Prof. Pasquale Calabrese, aufgebaut.
- In den letzten 15 Jahren hat die MS-Gesellschaft ca. 350 wissenschaftliche Projekte mit total 15 Mio. CHF unterstützt.
- Ein Angebotsbedarf für pflegende Angehörige wurde festgestellt. Spezifische Angebote für diese Gruppe sind im Aufbau.
- Neue Online-Angebote wie Facebook werden geprüft. Eine rasche Umsetzung wird durch den Schutz der persönlichen Daten gebremst.
- 80% der MS-Gesellschaft werden durch Spenden finanziert. Jeder kann seinen Teil dazu beitragen. Sei es für das Beratungsangebote oder zur Forschungsförderung.
Wer impft, gewinnt
Der Immunologe Prof. Dr. Tobias Derfuss informierte über Impfungen und MS.
Lösen Infektionen Schübe aus?
Nach Infektionen ist das Schubrisiko bis zu 3× erhöht. Eine erhöhte MRI-Aktivität nach Infektionen ist feststellbar.
In der westlichen Welt ist die Zahl von Infektionen wegen Hygienemassnahmen, besseren Lebensumständen und Impfungen stark zurückgegangen.
Zwei Arten von Impfungen werden unterschieden: die Aktive und die Passive. Bei der Aktiven wird das Immunsystem zum Aufbau der Schutzfunktion angeregt. Bei der Passiven wird die Schutzinformation als Blutprodukt direkt übertragen. Die passive Form wird nur selten, z.B. in Notfällen eingesetzt.
Lösen Impfungen Schübe aus?
Eine Metaanalyse2 zeigt ein geringes Risiko für Diphterie und Tetanus.
In einer Studie wurden die Schübe nach einer Grippeimpfung untersucht. Zwischen der Placebo- und den Geimpften gab es keine nennenswerten Unterschiede.
Was ist der Einfluss von MS-Medikamenten auf Impfungen und Infektionen?
Kein Einfluss von Beta-Inferferonen auf die Grippe wurde festgestellt.
Es wurde kein negativer Einfluss von Fingolimod auf das Impfansprechen festgestellt.
Impfungen sollten frühsten zwei Wochen nach dem Cortison-Einsatz erfolgen.
Empfehlung
Totimpfstoffe gelten aus gut verträglich, Lebendimpfstoff bedingen eine gewisse Vorsicht.
Tetanus, Dipherie, Influenza, Pneumokokken, Pertussis, Hepatitis B Gelbfieber, Tollwut
VZV (Windpocken Lebendimpfung, vor Einsatz von Fingolimod, wenn keine Immunität besteht)
Prof. Dr. Tobias Derfuss informierte das Publikum zu Beginn des Vortrages über seine Interessenkonflikte.
Was ändert sich durch die neuen Medikamente?
Prof. Dr. Ludwig Kappos betonte zu Beginn die Kompensationsmöglichkeiten des Gehirns. Im frühen Stadium ist das Gehirn in der Lage Schädigungen zu kompensieren. Es gibt noch wenig feststellbare Symptome. Wenig klinisch feststellbare Symptome heisst also nicht automatisch, dass das Krankheitsfortschreiten stehen bleibt.
Phasen der MS-Schädigung | CC BY-SA Patientensicht.ch
Anschliessend gab er einen Überblick über die aktuellen und die kommenden MS-Medikamente. Er verglich die Wirksamkeit, die Wirkungseigenschaften, die Nebenwirkungen von
- den Beta-Interferonen (Betaseron®, Avonex®, Rebif®),
- Glatirameracetat (Copaxone®),
- Fingolimod (Gilenya®),
- Mitoxantron,
- BG-12 (Fumarsäure, Dimethylfumarat, Fumarat, Fumarsäuredimethylester),
- Teriflunomide (Aubagio®) und
- Alemtuzumab (Lemtrada®, früher als MabCampath® für Leukämie).
Das noch nicht zugelassene Alemtuzumab ist ein immunsuppressives Medikament. Es wird das stärkste MS-Medikament werden. Seine Wirkung wird als «Neustart des Immunsystems» beschrieben. Als Nebenwirkungen wurde eine grössere Infektanfälligkeit, wie auch das Auftreten von anderen Immunerkrankungen festgestellt. Wegen der Nebenwirkungen macht das Medikament nur bei schweren Krankheitsverläufen Sinn.
Im Artikel Informationsveranstaltung «Medikamentenentwicklung und MS» der MS-Gesellschaft habe ich bereits über BG-12 und zu Teriflunomide geschrieben.
Er nannte Faktoren, wie das Potential der Medikamente besser ausgeschöpft werden kann. Zum Schluss zeigte er Kriterien, die zu einer höheren Wirkungserwartung führen.
Prof. Dr. Kappos informierte das Publikum zu Beginn des Vortrages über seine Interessenkonflikte.
Fragen
Einige ausgewählte, allgemeine Fragen des Publikums3:
Warum werden wir auf neue Medikamente «gluschtig» gemacht, die gar nicht oder nur schwer erhältlich sind?
Es ist das Ziel über neue Entwicklungen zu informieren. Eine Zulassung ist beantragt worden. Diese Medikamente werden wahrscheinlich in Zukunft erhältlich sein.
Ist die Zeckenimpfung (FMSE Impfung) empfohlen?
Ja, wenn ein Risiko eines Zeckenbisses mit FMSE-Erreger vorhanden ist.
Fördern die Beta-Intererone oder Copaxone Depressionen?
Das Thema wird kontrovers diskutiert. Bei Personen «ohne Vorgeschichte» wurde kein erhöhtes Risiko festgestellt.
Offenlegung der Interessenkonflikte
Das Publikum wurde erfreulicherweise jeweils zu Beginn eines Vortrages über das vorliegen vonInteressenkonflikten informiert, wie es die SAMW-Richtlinien vorsehen. Prof. Kappos und Derfuss erklärten, dass ihre Forschung auch von grossen Pharmaunternehmen finanziert wird, da die staatliche Finanzierung nicht ausreichend ist. Diese Transparenz ermöglicht dem Publikum das Gehörte eigenständig einzuordnen.
Bemerkungen
Das war ein gelungener und gut besuchter Anlass. Mit ca. 500 Teilnehmern zählt dieser Anlass zu den grösseren fachorientierten Publikumsveranstaltungen. Die Vorbereitung war gut und die Organisation klappte reibungslos.
Die Vorträge waren ausnahmslos gut verständlich und informativ. Persönlich am interessantesten fand ich die Vorträge über die optische Kohärenztomografie (OCT) und den Stress. Es wurde angekündigt, dass die Folien in etwa zwei Wochen ins Netz gestellt werden.
Ein solcher Anlass ist ein guter Weg für die Wissenschaftler ihren Wissensstand und ihre Haltung, wie beispielsweise beim Thema Impfen, dem Publikum zu vermitteln.
Die MS-Gesellschaft hatte einen Infostand mit Broschüren aufgestellt. Mitarbeiterinnen standen für Fragen zur Verfügung. Ein solcher Anlass gibt die Möglichkeit die Köpfe hinter den Texten und Broschüren zu sehen.
Ich versuchte die wesentlichen Informationen der Veranstaltung ausgewogen wiederzugeben. Ich hoffe dieser Bericht war hilfreich.
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Gemäss Wikipedia wird 4-Aminopyridin / Fampridin unter dem Markennamen Avitrol® ebenfalls als Vogelgift vertrieben. Ist dies eine Frage der Dosis? ↩
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Farez et al. J. Neurol 2011 ↩
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Während dem Schreiben dieses Artikels ist mir eine eigene Frage in den Sinn gekommen: Wer ist von Redner wie geimpft? Dies wäre interessant zu wissen, denn man soll Leute nicht Worten, sondern nach Taten beurteilen. ↩
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