“Junge Welt”, 20.12.2011
Rußland tritt der Welthandelsorganisation WTO bei. Stellung als Rohstofflieferant wird sich dadurch eher verfestigen
Am vergangenen Freitag konnte Rußland nach jahrelangen Bemühungen der Welthandelsorganisation WTO beitreten. Im Beisein des russischen Vizepremiers Igor Schuwalow unterschrieben Pascal Lamy, der Generaldirektor der WTO, und die russische Handelsministerin Elvira Nabiullina das Beitrittsabkommen während der WTO-Konferenz in Genf. Gut zehn Jahre nach der Volksrepublik China trat somit die Russische Föderation als letzte große Volkswirtschaft und als 154. Mitgliedsstaat der Handelsorganisation bei. Das russische Parlament muß die Mitgliedschaft noch ratifizieren.
WTO-Direktor Lamy sprach bei der Aufnahmezeremonie von einem »historischen Moment für Rußland und für das gesamte WTO-System«. In einer von Schuwalow verlesenen Grußbotschaft des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew verlieh dieser seiner Hoffnung Ausdruck, der WTO-Beitritt werde »sowohl Rußland als auch seinen künftigen Partnern« zugutekommen. Die nach einem 18jährigen Verhandlungsmarathon abgeschlossene Aufnahme Rußlands in die Welthandelsorganisation findet laut Medwedew in einer »schwierigen Periode« statt. Er sei jedoch überzeugt, »daß das gewaltige Potenzial der WTO zur Lösung dieser Probleme und zur Gewährleistung der internationalen ökonomischen Stabilität beitragen« werde. Rußland stehe bereit, »einen großen Beitrag zu dieser Arbeit zu leisten«, so Medwedew. Die WTO-Aufnahme begrüßte auch der US-Vertreter Ron Kirk: »Wir glauben, die Aufnahme ist gut für die WTO, für Rußland und für die USA.« Bundeswirtschaftsminister Philip Rösler erklärte nahezu wortgleich, Rußlands Beitritt sei »gut für Deutschland, gut für Rußland und gut für die WTO«.
Erhoffte Modernisierung
Das Kalkül des Kreml bei dem jahrelang angestrebten WTO-Beitritt umriß jüngst der Wirtschaftsberater des russischen Präsidenten, Arkadi Dworkowitsch. Innerhalb der Welthandelsorganisation könne Rußland auf eine Reihe von Vorteilen gegenüber seinen Partnern zählen, die »nicht unterschätzt werden« sollten. Hierzu zählte Dworkowitsch in erster Linie »die Naturressourcen und die günstige geographische Lage«, sowie das »intellektuelle Potenzial und die hochtechnologischen Produktionskapazitäten«. Zudem hätten der »Agrar- und der Finanzsektor Rußlands in den zurückliegenden Jahren beträchtliche Erfolge erzielt«, die durch die Konkurrenz innerhalb der WTO weiter befördert würden.
Der wichtigste Beweggrund, der die russische Führung zum WTO-Beitritt motivierte, dürfte in der Hoffnung auf einen Modernisierungsschub des maroden russischen Staatskapitalismus bestehen. Bisher sind die auf das Binnenpotenzial setzenden Modernisierungsversuche, die ursprünglich von Premier Wladimir Putin favorisiert wurden, im Sande verlaufen. Aufgrund der mit dem WTO-Beitritt einhergehenden Rechtssicherheit für ausländisches Kapital hofft der Kreml auf eine massive Ausweitung ausländischer Investitionen, die eine »importierte Modernisierung« der russischen Wirtschaft vorantreiben sollen. Dieselbe Hoffnung motiviert die Bemühungen Rußlands um eine Annäherung an die EU.
Die Realität sieht anders aus. Aufgrund von Gesetzen aus der Ära des Kalten Krieges weigern sich die USA, Rußland die laut WTO-Vertrag zustehenden Handelsvorteile zu gewähren. Der Kreml erklärte seinerseits, die WTO-Regeln ebenfalls bis auf Weiteres nicht auf die USA anzuwenden.
Deindustrialisierung droht
Es bleibt auch fraglich, ob die Modernisierungsbemühungen des Kreml durch den WTO-Beitritt an Auftrieb gewinnen werden. Für die deutsche Wirtschaft etwa gilt Rußland vor allem als Rohstofflieferant und Absatzmarkt, der künftig die deutschen Exportüberschüsse aufnehmen soll, die in Südeuropa aufgrund der Schuldenkrise nicht mehr in dem gewohnten Umfang realisiert werden können. Rußand liefert derzeit vor allem Rohstoffe und Energieträger nach Westeuropa, während in die Gegenrichtung komplexe Produkte mit hoher Wertschöpfung exportiert werden. Das deutsch-russische Handelsvolumen wird in diesem Jahr mit voraussichtlich 68 Milliarden Euro einen neuen Rekordwert erreichen. Im bislang besten Jahr 2008 waren es 58 Milliarden. Der Vorsitzende des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Eckhard Cordes, begrüßte den WTO-Beitritt Rußlands enthusiastisch, da der »deutsch-russische Handel durch die Absenkung einer großen Zahl von Zolltarifen und die Vereinheitlichung von Produktnormen und Zertifizierungen einen echten Schub erhalten« werde.
Die fallenden Zollschranken und wegbrechenden Staatshilfen dürften viele russische Unternehmen in den Bankrott treiben, an denen die Modernisierungsbemühungen des Kreml spurlos vorbeigegangen sind. Die meisten Industriebetriebe verfügen nur über marode Produktionsanlagen und Strukturen, die teilweise seit Sowjetzeiten nicht erneuert wurden. Den zunehmenden Konkurrenzdruck im Zuge des WTO-Beitritts sind nur einige russische Vorzeigekonzerne aus der Energiebranche gewachsen, was zu einem Deindustrialisierungsschub führen durfte. Anders als der Kreml träumt, könnte sich die Rolle Rußlands als Rohstofflieferant und Absatzmarkt westlicher High-tech-Waren verfestigen.