Der tunesische Frühling nach dem arabischen Frühling ist blutgetränkt. Heute wurde der Chef einer kleinen Linkspartei auf offener Strasse aus kürzester Entfernung erschossen. Der Täter flüchtete mit einem Helfershelfer auf einem Motorrad. Jetzt wird die Regierung aufgelöst und eine Technokraten-Regierung wurde angekündigt. Niemand, absolut niemand, zweifelt daran, dass dies ein politischer Mord war.
Der Tod des 49-jährigen Anwalts Chokri Belaid hat das Land geschockt, das als erstes eine Diktatur zu Fall gebracht hatte. Gewalttätige Proteste waren die Folge. Die Ermordung des Parteichefs “entsteht aus der Spirale politischer Spannungen in Tunesien, besonders zwischen der laizistischen Opposition und den Islamisten”, versichert Allani Alaya, Universitätsprofessor in der Hauptstadt.
Ennahda, die eher moderate islamistische Partei, die das Land regiert, beeilte sich, das Attentat zu verurteilen: “Das ist ein Verbrechen, ein terroristischer Anschlag, nicht nur gegen Belais sondern gegen ganz Tunesien”, unterstrich Ministerpräsident Hamadi Jebali im Radio. Er kündigte an, die Forderungen der laizistischen Opposition mehr berücksichtigen zu wollen und kündigte eine Regierungsumbildung an: “Nach dem Scheitern der Verhandlungen habe ich beschlossen, eine technokratische Regierung zu formen”, sagte Jebali, der allerdings selbst im Amt bleiben will. Es müsse “so früh wie möglich” neue Wahlen geben.
Die Verurteilung des Anschlags durch die Regierungspartei Ennahda reichte allerdings nicht aus, um die Angehörigen des Opfers und die Opposition zu beruhigen. “Mein Mann ist mehrfach bedroht worden”, klagte die Frau des toten Anwalts an, “aber man hat ihm keine Bewacher zugestanden.” – Der Bruder des Opfers wurde deutlicher: “Ennahda kann zum Teufel gehen! Ich klage Rachid Ghanuchi (Red.: den Chef der islamistischen Bewegung) direkt an, den Tod meines Bruders provoziert zu haben.” – Ghanuchi, du dreckiger Hund!”, rief der Vater des Toten noch an der Tür des Krankenhauses aus. Vor diesem Krankenhaus, vor dem Wohnsitz des toten Anwalts und vor dem Innenministerium in Tunis versammelten sich spontan wütende Menschenmengen.
Wie in den Zeiten der Revolution, zwischen Dezember 2010 und Januar 2011, rief die Menge “Das Volk will den Fall des Regimes”, aber diesmal gab es auch neue Slogans wie “Ennahda foltert das Volk” und “Wir wollen eine Revolution”. Wie damals flogen Steine gegen die Polizei, die mit Tränengas antwortete. Ein 46-jähriger Uniformierter starb im Steinhagel. In Sidi Buzid, in der kleinen Stadt, in der damals der arabische Frühling begann, wurde der Parteisitz von Ennahda überfallen. In mehreren anderen Provinzstädten wurde ebenfalls versucht den lokalen Sitz der islamistischen Partei anzuzünden oder auszurauben.