Der zweite Ort, der mich immer wieder in Atem hält mit seinem geheimnisvollen Licht und seiner jahrhundertalten Geschichte ist die Nekropole des Tempelbergs Koyasan 高野山 südlich von Osaka 大阪. Die hügeligen Friedhofsalleen sind gesäumt mit uralten Rotsicheltannen (sugi 杉), an deren Basis verwitterte Jizo-Statuen (地蔵菩薩) stehen. Obwohl man sich an einem Ort des Todes befindet, ist die Atmosphaere in keinster Weise morbid oder angsteinfloessend. Man hat vielmehr ein Gefuehl feierlicher Ruhe. Der Jizo, der in zahlreichen Formen, wie unbehauenen Steinen, Satuenpyramiden oder in Staemmen eingesetzten Geisterfiguren auftaucht, ist die Totemfigur Japans schlechthin. Genau genommen handelt es sich bei ihm um den indischen Bodhisattva Ksitigarbha, der als Interim-Boddhisattva die Glaeubigen bis zum Kommen des neuen Buddhas trösten sollte. Auch zog er traditionell als Wandermoench durch die 6 Hoellenbereiche, um mit seinem leuchtenden Wunschjuwel den gestürzten Entitaeten den Weg in höhere Daseinsbereiche zu weißen. In Japan hat er teils noch diese Funktion, hat aber im Mittelalter die Funktion des Troesters von Muettern übernommen, die ihre Kinder verloren hatten bzw. abtreiben mussten. Gleichzeitig beten aber auch heute noch werdende Muetter für eine gute Geburt oder trösten ihre schreienden Kinder mit gesegnetem Wasser von Jizo-Quellen (z.B. der Yonakisen 夜泣泉 im Sanjusangendo 三十三間堂, Kyoto). Nebenbei ist er in Kyoto für Zahnschmerzen und Augenprobleme zuständig. An der ehemaligen Richtstaette Edos, in Kozukappara 小塚原 (heute in Minamisenju 南千住, Tokyo), steht bis heute ein großer Kubikiri jizoson 首斬地蔵尊 ("Enthauptungs-Ksitigarbha"), der die Geister der Gekoepften besänftigen soll. Totem, Geburtshelfer, HNO-Arzt und Hoellenwanderer - kein Boddhisattva Japans hat sich mehr vom Buddhismus Indiens entfernt und gleichzeitig derart viele unterschiedliche Aufgaben zugeschrieben bekommen, wie der japanische Jizo. Bis heute werden ihm Kinderspielsachen, rote Haekelmuetzchen und Laetzchen gestiftet, die u.a. die Geister der zu Unrecht Gestorbenen befrieden soll.
Hier ein paar Bilder aus der Nekropole des Koyasan (1-3: Jizo-Statuen, 4: Graeber):
Ebenso befindet sich auf dem Koyasan der größte Steingarten Japans, im Kongobuji 金剛峰寺:
Wie es sich für Japan gehört, vermischt sich auch hier Skurriles/Niedliches mit Sakralem. Direkt neben einem großen Tempel, welcher der Toten Burmas gedenkt, findet sich ein Kondomautomat (man beachte die wunderbaren Markennamen) sowie ein Grabsteinhaendler mit Hang zu Walt Disney:
Das spirituell außergewöhnlichste Erlebnis dieser Woche war aber die buddhistische Sutrenrezitation im Haustempel der Herberge. Nach gut 40 min. Gesang und Andacht trat der Abt nach vorne, lass die Namen der kuerzlich Verstorbenen vor und wies sofort auf den Verkaufsstand neben dem Altar hin, wo Sutren, Raeucherwerk und weitere Devotionalien fuer das Heil der just Verblichenen verkauft wurden. An dieser Stelle wuerde man nun eine Belehrung erwarten (seppo 説法), stattdessen machte der gute Abt erst einmal kraeftig Werbung für die heißen Quellen um die Ecke und die weiteren Sehenswuerdigkeiten des Berges, bevor er abschloss mit dem Kommentar "wir bemuehen uns auf dem Koyasan, die Umwelt zu schuetzen und das Wasser sauber zu halten". Ich fragte mich dann schon, ob die gesamte Zeremonie von Fujitsu gesponsert war. Das weckt Erinnerungen an die Pfarrer in der Jugend, die nach erfolgter Segnung sehr deutlich auf den Klingelbeutel an der Kirchenpforte verwiesen.
—-- Artikel wurde erstellt auf meinem iPad