Im Hotel Sacher trifft sich um die Jahrhundertwende alles, was in Österreich-Ungarn Rang, Namen und/oder Geld hat. Gegründet wird es 1872 von Eduard Sacher, der sich in den 60er Jahren bereits einen Namen in Wien als Restaurateur und Delikatessenhändler gemacht hat. Nachdem Eduard 1880 die junge Anna heiratet, wird das Hotel schnell zu ihrem Projekt und ambitioniert macht sie sich daran, das zunächst einfache Maison meublée zum Grandhotel zu machen. In Nachbarhäusern werden zusätzliche Zimmer und Wohnungen angemietet und Anna Sacher stellt mehr Personal ein, das sie umfassend ausbildet - ihrem Mann prophezeit sie: "Ich bring dir dir Leut so weit, dass alle in der Stadt sagen werden, dass, wer beim Sacher gelernt hat, seine Zukunft in der Hand hat."
1892 stirbt Eduard Sacher und seine junge Witwe ist plötzlich nicht mehr nur Hoteliersgattin, sondern selbst Hotelierin. Beherzt nimmt sie die Dinge in Hand und das Sacher wird immer mehr zum Treffpunkt der Wiener Gesellschaft. Laut Czernin ist es auch einer der wenigen Orte, an denen sich sowohl Mitglieder der Hocharistokratie als auch die aufstrebenden Geschäftsleute des Wiener Bürgertums die Klinke in die Hand geben. Das Haus ist längst in den Hoflieferantenstatus des Kaiserhauses erhoben worden und Erzherzog Rudolf, Thronfolger und Sohn des Kaiserpaares ist vor seinem Freitod nicht das einzige Mitglied der kaiserlichen Familie, das regelmäßig im Sacher diniert oder sich seine Diners in der Hofburg vom Sacher ausrichten lässt. Neben Scharen von Erzherzögen verkehren hier auch die Rothschilds, König Milan von Serbien und Pauline Metternich. Aber auch Künstler treibt es hier hin und fast alle großen Wiener Künstler aus der Zeit um die Jahrhundertwende finden Erwähnung: darunter Arthur Schnitzler, Gustav Klimt, Gustav Mahler und Max Reinhardt.
Nicht nur die Personen, die im Sacher ein und aus gehen sind interessant, Anna Sachers Zeit ist es auch: 1930 verstirbt Anna Sacher und erlebt so tiefgreifende Veränderungen in der Donau-Monarchie: mit großen Schritten hält die Modern Einzug in der Welt, das Leben wird schneller und lauter, die Kaiserin erliegt einem Attentat, der Kronprinz bringt sich um, ein weiterer Thronfolger wird erschossen und das europäische Wettrüsten entlädt sich im ersten Weltkrieg nach dessen Ende das Kaiserreich eine beträchtlich geschrumpfte Republik ist: der Vielvölkerstaat ist zerbrochen und in Wien streiten sich Sozialisten und Konservative, während sie den Aufstieg der Faschisten nicht ernst genug nehmen...
Monika Czernin gelingt es, diese Zeit der Veränderungen und dramatischen Ereignisse ebenso einzufangen wie die oft schillernden Persönlichkeiten, die dieser Belle Epoque und den Jahren danach ihren Stempel aufdrücken, und die Person der Anna Sacher zum Leben zu erwecken. Der Spagat zwischen Biographie und Gesellschaftsporträt gelingt ihr dank umfassender Rechercheergebnisse, die sie teilweise in schön erzählte Momentaufnahmen einfließen lässt, um dann wieder einen sachlichen Blick auf die historischen Gegebenheiten zu lenken:
Im Sacher also gaben an diesem Abend die Dichter den Ton an, und wären die Aristokraten da gewesen, hätten sie ohnedies nur die Nase gerümpft, denn die Dichter und Künstler der neuen Zeit waren ihre Sache wahrlich nicht.
Die Diskussionen am Tisch waren, wie so oft in jener Zeit, bei einem Loblied auf die Moderne angekommen, und einer der anwesenden Bewunderer hob an, aus Bahrs programmatischer Schrift Die Überwindung des Naturalismus zu deklamieren [...] 1891 erschienen, war der Text zur Bibel der neuen Literaturen und all jener Apologeten des Zeitgeistes geworden, die es nicht versäumen wollten, sich dem frischen Wind, der auf einmal durch die Künste wehte, anzuschließen [...] Die Moderne brach sowohl als euphorisch begrüßtes wie auch als zutiefst verstörendes Projekt über die Künstler herein, noch bevor das alte Jahrhundert zu Ende und das neue angebrochen war...
Die Wiener Moderne hatte ihre Wurzeln in einem denkwürdigen Generationenkonflikt, doch selten hat eine Revolte der Jugend derart nachhaltige Qualität zu Tage gefördert: Es waren die Söhne jener Bürger und Großbürger, die die Gründerzeit mit ihren kapitalistischen Erfolgen und ihrem unbändigen Aufstiegswillen dominiert hatten ...
Diese Mischung aus erzählerischen Episoden und Sachbuch liest sich leicht und flüssig; man erfährt quasi nebenbei eine Menge über Kultur, Politik und Gesellschaft einer europäischen Großmacht vor, während und nach dem ersten Weltkrieg. Daher ist dieses Buch nicht nur für Sacher(torten)-Fans absolut empfehlenswert, sondern auch für jeden, der sich schlicht für locker aufbereitete, europäische Geschichte interessiert.
Lieblingssatz: "Genuss sollte nicht an Tageszeiten gebunden, sondern als Lebenseinstellung praktiziert werden." (Weitere Lieblingssätze hier).