Die längsten Tage, die kürzesten Nächte überwandern das Land. Es wird nicht mehr ganz dunkel des Nachts, der Untergangspunkt der Sonne hat sich weit vom Westen zum Norden hin verschoben, vom späten Abend bis zum Morgengrauen bleibt der Nordhorizont, den als einsamer Stern Capella im Fuhrmann durchfunkelt, Träger eines gläsern klaren oder eines milchigen Glanzes.
Der Sommer ist jetzt bei sich selber zu Tisch geladen. Ein reicher Tisch: alle Wiesen sind übersät mit Blütensternen oder vom Duft des Heus betäubt, die Rosen glühen aus den Gärten, und der Abendweg durch die Hecken, zum sanften Schwung der Hügel hin, ist eingesäumt von Heckenrosen und von den im warmen Wind hin- und hergewiegten weißen, duftenden Doldentellern des Holunders. Kein noch so kärgliches Winkelchen der Welt bleibt ohne Blüten, die winzigen weißen Blütensternchen der Vogelmiere durchschimmern das zertretene Gras der Wege, auf knochentrockenem Lehm am Rande des Ackers gedeiht die kleine scharlachfarbene Blume Gauchheil, das gilbende Getreide hat den Boden nicht so leer gesogen, dass nicht der feuerrote Mohn bunt ins Land leuchten könnte aus dem Wogengang der Halme.
Wir hätte kein Hausmittel zur Verfügung, wäre der Mensch nicht seit jeher ein Witternder, Deutender, der Physiognomie der Dinge ihr Wesengeheimnis Ablesender gewesen. Die Heilpflanzen tragen ihr Etikett: Lebensweise,Farbe, Form, Duft und andere Qualitäten gaben dem Menschen der Zeitenfrühe Auskunft über ihre therapeutische Verwertbarkeit und vermögen es dem Menschen unserer Zeit noch immer zu geben. Der homöopathische Arzt Emil Schlegel schrieb unter dem Titel "Religion der Arznei" ein ganzes Lehrbuch dieser medizinischen Signaturenlehre. Es ist eine Deutungswissenschaft, die wir besonders im Juni gut gebrauchen können, denn die meisten Heilpflanzen unserer Heimat wollen vor dem Tag der Sommersonnenwende geerntet sein.
Indem nun, von der Höhe des entfalteten Sommers her, die Rückwanderung zum Dunkel anhebt, die Heimkehr des offenbaren ins Verborgene, das Schwächerwerden des äußeren Lichtes zugunsten des inneren, geschieht vom Jahreslauf her ähnliches wie beim Überschreiten der Lebensmitte im menschlichen Schicksalslauf. Nicht ins Sterben wendet sich der Weg, sondern ins Reifen: die bunte Fülle ist nicht das Eigentliche --: der leuchtende Weisheitsgewinn, die Heiligung des Wandels über den Planeten ist das Ziel. So weist die Johanniszeit auf Kosmisches hin, um dessentwillen irdische Daseinsmacht ihren Abbau erleiden muss. Wenn zur Weihnacht, aus dem dunkelsten Dunkel, das Fünklein des Erlösungslichtes geboren werden soll, dann ist es die Predigt der Johanniszeit, auf rechte Weise die Kraft zu entfachen, die das Reifen und Welken erträgt um des inneren Wachstums willen.
Die Heckenrose des Juni ist für den wahrhaft Wachsamen ausersehen, zur Rosa mystica zu werden, so wie der Holunder der Baum der Einweihung ist, der mit den tausend kleinen weißen Pentagrammen jeder seiner Blütendolden auf den unsterblichen Menschen hinweist.
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