“Jazz Cafe”. Foto: Billie Hara via flickr
Das Moers Festival ist eines der wichtigsten Festivals für Experimentelle Musik und Jazz. Philipp alias Phire war vor Ort und erzählt aus den Tiefen der selektiven Wahrnehmung.
Auf der Snaredrum von Phil Collins „Invisible touch“ reitend, lasse ich die Berliner Nicht-Skyline hinter mir und gleite mit drei Unbekannten auf der glühenden Autobahn Richtung Moers. Wir schweigen und die Reibung des Reifengummis erzeugt einen Dauerloop aus weißem Rauschen, aus dem sich gelegentlich heteronormative Radiowerbung schält. „Schaaaatz?“. „Ja?“, antwortet die erwartungsfreudige Frauenstimme. „Gehst du mit mir zum Karstadt Weekend Shopping“? „Jaaaaa!“.
An der Ausfahrt Hannover unterhält mich die ZEIT kurz mit einem Text über die befürchteten Auswirkungen eines EU-Austritts Großbritanniens, bevor ich das Papier beim Blick auf das Foto von einer selbstgerechten Diskussionsrunde in den Rücksitz presse. Die Zukunft des bürgerlichen Journalismus: Ginge es nach der größten Wochenzeitung Deutschlands, besteht sie auch in der fotografischen Selbstvergewisserung von sich staatstragend wähnender Journalisten, die irgendwelchen Prominenten gegenübersitzen, um eine Nähe zur Macht zu suggerieren.
Es ist zum Verzweifeln, und draußen ragen schlaksige Nadelbäume ins Endlosblau, werfen Schatten auf flache Felder, auf denen Nutztiere apathisch ihrem Schicksal entgegengrasen.
„Diiiieser Weg, wird kein leichter sein, diiieser Weg wird steinig und…“, singt eine Stimme, das Jetzt vergeblich überhöhend, aber, das sehe ich im Rückspiegel, die Beifahrerin in einen Schwelge-Modus versetzend.
Nach 9 Stunden und erfrischenden Zwischenstationen in Essen und Duisburg, erreiche ich den Moerser Bahnhof, Ruhrpott-Tristesse in schönstem Schwarzweiß. Mich und das Moers Festival, eines der interessantesten Festivals für internationale Experimentalmusik und Jazz, trennen jetzt nur noch 5 km Fußweg.
Der ist bei 35 Grad und einem übergewichtigen Backpackrucksack schwieriger als erwartet. Doch ich hätte ja auch eine Festivalbesucherin, die zufällig denselben Weg geht, kennen lernen können und mit ihr, nach einem epiphanischen Blickwechsel zurückliegende Festivalerlebnisse austauschen können, während uns die Abendsonne scheinwerferhaft angestrahlt hätte, die beschleunigten Hormon-Moleküle in unseren Adern spürend und gleichzeitig wissend, dass wir uns nie wieder sehen würden, bevor sich die Begegnung in beiderseitiges Vergessen auflöst, um sich als ungelebtes Lebenskapitel im Unbewussten einzuspeichern.
Moerser Shopping Mall-Romantik. Foto: Phire
Das geschah jedoch nicht. Stattdessen war das erste zugleich das letzte Konzert des ersten Festivaltags, eine zähflüssige Performance einer finnischen Big Band, deren MCs die ganz okaye Musik unter erbarmungslos übersteuerten Raps begruben. Anschließend unterhalte ich mich angenehm empört mit dem „Knobibrot“-Stand-Verkäufer über die neue Ordnungsamt-Konformität des neuen Festivalortes: ein totes, charmeloses Ex-Industriegebiet am Stadtrand. „Und es ist echt Mist, dass wir hier um Punkt 12 kein Essen mehr verkaufen dürfen. Vor 20 Jahren war ich hier selbst Besucher und da habe ich noch um 3 Uhr was essen können.“ Mein Magen stimmt ihm zu.
Jaki Liebezeit, Marshall Allen und Marcus Schmickler. Foto: Phire
Am Samstagnachmittag der erste überzeugende Liveact: Die Perkussionistin Robyn Schulkowsky und Joey Baron, Lieblingsdrummer von John Zorn, spielen ein einstündiges Schlagzeugstück, das in seinem ständigen miteinander- und aneinander vorbei Schlagen an Edgar Varèses „Ionisation“ von 1933 erinnert (das erste, rein perkussive Orchesterstück überhaupt). Varèse wollte mithilfe von neuen Klängen vor allem neue, fernab der von musikalischen Konventionen abgestumpften Emotionen freisetzen, und genau das funktioniert auch 80 Jahre später noch. Jeder neue Mikrorhythmus entfacht neue Seins-Zustände. Kein Klang und keine Melodie verweist auf etwas anderes als sich selbst, womit das Hören selbst zur Komposition wird.
Zurück am Zeltplatz bringen uns arrivierte Wohlstandsschwaben mit ihrer aufgeräumten Premiumcamper-Attitüde auf den Boden bürgerlicher Tatsachen. Glücklicherweise beamt uns das Sun Ra Arkestra abends wieder #outerspace, in einen Retro-Science-Fiction-Film der 50er-Jahre. Dass zum Abschluss alle Musiker singend die Bühne verlassen, zeigt, dass für sie Musik mehr ist als nur Musik. Kein konzertant-künstlicher Moment, sondern eine Art, zu leben. Am unprätentiösen Charme der Band mit dem Altersdurchschnitt 70 könnten sich manch andere, verkrampft durchakademisierte Künstler ein Beispiel nehmen.
Sun Ra Arkestra live in Moers. Foto: Phire
Später, im privaten Kreis die traditionelle Diskussion über die akustische Dominanz enthemmter Saxophon-Solisten. Ein Freund beschließt, ab sofort auf den Vorschussapplaus für „arrogante Freejazzer“ zu verzichten. Wir lachen, prosten an und genießen die Stille der Gesprächspause.
Auf dem Weg zu den „night sessions“ erzählt uns die Zeltplatz-Aufsicht, ein menschgewordener Marshmallowman, dass er aufgrund von Einsparungen eine Doppelschicht schieben müsse. Er sitze inzwischen seit 17 Stunden an seinem Platz. Wir bekunden unsere Solidarität und ärgern uns über den neoliberalen Austeritäts-Zwang des Festivals.
Früher war´s geiler. Moers Festival 1978. Foto: Christoph Schrief via flickr.
Zeit, zu verdrängen und postpubertäre Rest-Sehnsüchte in entschlossene Aufbruchsstimmung zu kanalisieren. Ein Taxi bringt uns zur „Röhre“, dem einzigen Club der Stadt. Im menschenleeren Gewölbekeller empfiehlt uns der Barkeeper das „Bollwerk“. Eine halbe Stunde später stehen wir vor einer Mauer aus Bauzäunen, durch die verheißungsvoller Psy-Trance herüberweht. Zähneknirschend bezahlen wir die 10 Euro Eintritt und…
Auf dem Rückweg stürzen uns synthetisch aufgeputschte Duisburger im Unterhemd entgegen und fordern mich zum Freestyle-Battle auf. „Ey, ich sehe dir an, du willst nen Battle!“ Ok, dann leg mal los: „Du bist so Scheiße wie ´ne Portion Pommes, wie ne leere Ketchupflasche ohne Salz, du bist wie Karstadt, vom Keller bis zum oberen Detail, geh als Afrob in die Disse, was issn da los“. Es ist lange her, dass meine angeborenen Locken als Provokation instrumentalisiert wurden. Ein beruhigender Gedanke, den ich mantraartig wiederhole, um mich sanft in einen kurzen Schlaf zu meditieren.
Am nächsten Tag diktieren wir einem O-Ton-gierigen Lokaljournalisten salvenartig zitierkonforme Sätze ins Notizbuch und freuen uns über die Chance, ein Ventil für unseren latenten Hass auf die neue Festivallocation gefunden zu haben (einiges wurden gedruckt, siehe hier).
Letiers Leite Orkestra Rumppilezz. Foto: Fernando Eduardo
Nachts führen Letieres Leite & Orkestra Rumpilezz den uninspirierten PR-Text („Mischung aus Pop und Jazz“) ad absurdum und verwandeln die sauerstoffarme Hitze mit orchestralen Postrock-Samba, Mulatu Astatke-haften Wendeltreppenmelodien und den euphorischen Tonblitzen einer Swing-Band in eine süß-bittere Melancholie.
In der Nacht sitzen wir im Zelt unserer Hippienachbarn und erzeugen mit selbst gebauten Instrumenten rhythmische Kontrapunkte zum polyphonen Prasseln des Regens. Bis die Sonne aufgeht und unsichtbare Synthesizer unablässig Vogelgesänge nachahmen. Ich speichere sie ab, als Echos einer Parallelwelt, und schreite langsam über taubedecktes Gras.
Text und Cut-Up-Collage: Phire