Foto: L. Schuy
Ein multi cross-medialer Bericht von einem der wichtigsten Festivals für experimentelle Musik in Europa.
Tag 1.
Im Moerser Einkaufszentrum: getrocknete Tomaten, Halbbitterschokolade, eingeschweißter Salat und frisches Roggenbrot. Instant-Food für den kulturellen Ausnahmezustand. Ein älterer Herr wird neugierig: Ob ich aufs Festival gehen würde, ich erinnere ihn an seinen Sohn, der jetzt in den USA leben würde. Er selbst sei von Anfang an, „seit den 70ern“, dabei gewesen. Er hätte noch ein Foto, auf dem er „halbnackt auf der Wiese“ sitze. Heute sei das ja alles anders. Gut zu wissen.
Im Festivalzelt sorgen die vom Avantgardist John Zorn organisierten Sets für ständig neue Aggregatzustände, indem seine, aus den Staaten eingeflogene „musikalischen Familie“ Klangeruptionen zwischen Free Jazz, Grindcore und Neuer Musik erzeugt.
Bei Moonchild schlängelt sich Mike Patton wie eine menschliche Kobra über die Bühne. Er selbst wirkt wie ein Medium, dass übergangslos zwischen harmonischem Kehlkopfgesang, existenzialistschem Geshoute oder rhythmischem Hauchen hin- und her switcht und der künstlerischen Vision John Zorns alle Ehre macht: Der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten und sie dadurch verbessern.
Dafnis Prieto Trio. Moers Festival 2013. Foto: L. Schuy
Tag 2.
Die im Dunkelzelt in völliger Dunkelheit performten Kompositionen erinnern daran, dass Klänge eigentlich Rhizome sind. Als ursprungslose Einheiten schwirren die Sounds um den Hörer herum und saugen ihn auf, nur um ihn kurz darauf in die endlose Weite akustischer Räume zu katapultieren. Man selbst hört nicht einfach nur, sondern wird ein elementarer Bestandteil des Klangs. Hier wird das utopische Potential von Musik als hierarchieloses System Wirklichkeit. Wenn auch nur für kurze Zeit.
Der aus Kuba stammende und heute in New York lebende Drummer Dafnis Prieto rettete soeben das Leben 2500 Zuhörer. Leider bekamen das nur die wenigsten mit. Doch mit seiner atemverschlagenden Präzision fernab von Tempo- und Metren-Hürden erschuf er eine Parallelwelt, in welcher der Rhythmus eine ganze Menschheit regiert.
In der Nacht unterstützen uns zwei 19-jährige auf der Suche nach Cola für den ultimativen Komatrink-Exzess unsere Adhoc-Jamsession mit einem improvisierten Freestyle. Danke nochmal.
Zelt Innen. Moers Festival 2013. Foto: L. Schuy.
Tag 3.
Bill Laswell und seine Band Blixt haben den Psychedelic Rock perfektioniert. Immer wieder überdehnen sie Klänge und ermöglichen die akustische Katharsis.
Schon wieder das Dunkelzelt. Ein Interview mit dem Soundkünstler Kallabris folgt.
Einige Bands später, die kurze Einsicht in der Nacht: Ein guter, wirklich guter Schluss eine Stücks ist, wenn das letzte Motiv so komplex und interessant ist, dass es sich anhört, als sei es der Anfang eines neuen Stücks.
Trash. Moers Festival 2013. Foto: L. Schuy.
Tag 4.
Leider schaffen es die morning sessions nicht, die in Form eines perfiden Nieselregens einprasselnde Realität zu überblenden. Die Rückfahrt im Zug. Ein 13-Tonnen schweres Metall-Monster frisst sich durch mitteldeutsche Provinzen und erinnert daran, dass es kein gutes Leben im alltäglichen gibt. Statt der utopischen Realität eines genre-befreiten Musikerlebenns bleibt nur noch das Abtauchen in den Klangozean zeitgenössischer britischer Clubmusik. Kopfhörer auf. Blick auf die dichten, gedankeneinsperrenden Waldlandschaften aus. Killawatt-Set an.
Text: Phire