Modewort “problematisch”

Eine Kolumne in der “ZEIT” von Ronja von Rönne

Ronja von Rönne

Die kleinen Freuden werden immer kleiner, denn ständig nölt jemand dazwischen. Dauerproblematisierung ist zur Obsession geworden.
Deutschland hat Gold im Eiskunstlauf geholt. Was ja eigentlich schön ist, aber das finden manche auch irgendwie problematisch, man weiß ja gar nicht, wie deutsch die beiden Tanzhasen da eigentlich sind. Deniz Yücel wurde aus einer staatlichen Geiselnahme befreit, was eigentlich auch ein Grund zur Freude wäre, aber irgendwie auch problematisch, denn er hat mal etwas Provozierendes in einer Kolumne geschrieben. In der Schule gibt es selbst gebackene Pizza, was eigentlich lecker ist, aber irgendwie auch problematisch, weil da ein Haufen Gluten drin ist. Der Roman von Simon Strauß ist irgendwie voll schön, aber gleichzeitig auch etwas problematisch. Genau wie die Groko, problematisch. Genau wie Ampelmännchen, die keine Ampelfrauen sind, schwierig, oder Ampelfrauen, die dann mit Rock dargestellt werden, sexistisch, diskussionswürdig, schwierig, ganz genau übrigens wie diese Scheißavocados, die brauchen nämlich richtig viel Wasser beim Anbau. Und Gedichte erst, vor allem solche, in denen ein Mann Frauen bewundert. Rauchen auf Bahnhöfen. Bratwurst. Flüchtlinge. Laktose. Tweets von Thomas Gottschalk: PRO-BLE-MA-TISCH!

Es scheint so, als sei das Motto unserer Zeit: Schon schön, aber irgendwie problematisch. Oder kurz: Ohgottogottogott. Dabei sollte eine Ära nie ein Motto haben, denn Mottos sind zwar sinnstiftend, aber irgendwie in ihrer Einfachheit auch problematisch.

Überall Probleme!

Alles ist irgendwie problematisch, und was erst mal nicht problematisch scheint, wird eben problematisiert, egal ob von links, von rechts, oder von irgendwelchen Expertinnen und Experten. Keine Aktion ohne kritische Reaktion, egal ob es um einen vegetarischen Kantinentag oder Gedichte an Schulwänden geht. Es scheint, als ob es die Option “mir egal” oder “darüber weiß ich zu wenig” nicht mehr gäbe. Wer keine klare Haltung zeigt oder zumindest einen betroffenen Blick, egal, wie banal die Sache sein mag, disqualifiziert sich. Wer nicht um die Existenz des Vaterlandes fürchtet, sobald er das Wort “Burkini” hört, ist hoffnungslos naiv. Überall Probleme, und so wenig Grund zur Freude nur, außer mal sonntags beim Brunch, wenn der Kellner aus Versehen zu viel Wechselgeld rausgibt. Es sind schließlich die kleinen Freuden. Sie werden immer kleiner.

Probleme zu erkennen hat einen guten Ruf. Schließlich ist darin der Fortschritt der Menschheit begründet. Wenn wir nie erkannt hätten, wie furchtbar es da draußen ist, müssten wir unsere Pizza Diavolo immer noch selbst abholen wie so ein Offline-Opfer. Wenn wir nicht irgendwann festgestellt hätten, wie unangenehm menschlicher Kontakt ist, müssten wir noch immer Taxis telefonisch bestellen statt mithilfe einer App. Problembenennung hat uns Demokratie gebracht und Twitter, Thermounterwäsche und Tchibo-Dosen für Bananen. Wir hätten nie die Guillotine erfunden und die makrobiotische Ernährung und all die anderen Trends, Ideen, Erfindungen. Der Fortschritt hat unser Leben vielleicht nicht schöner oder lebenswerter gemacht, seit wir als Dauercamper in Höhlen hausten, irgendwie scheint er aber doch das Einzige zu sein, was die Menschheit zum Weitermachen motiviert. Und weitermachen, darum geht es ja, in irgendeine Richtung muss man ja taumeln, so als Gattung.

Trotzdem kann das, was eine Gesellschaft insgesamt weiterbringen mag, Feminismus, Sky-Abos, Wahlfreiheit, den einzelnen Menschen überfordern. Das Probleme-Erkennen ist zur Obsession geworden.

Widerstand ist schwierig

Über einen Witz zu lachen, der anstößig ist, oder Filme aus den Achtzigern zu lieben, die staubige Stereotype bedienen, ist jetzt kein Zeichen von schrägem Humor mehr, sondern zeugt von mangelnder Sensibilität. Sich dagegen zu wehren ist schwierig – was bleibt dem, der ein Problem der guten Laune halber nicht größer machen will, außer ein lapidares “Meine Güte, war doch nur ein Witz” oder ein noch viel, viel schlimmeres “Na ja, ich schaue Filme aus den Achtzigern eher ironisch”.

Das Problematisieren ist aber nicht nur ein politischer Vorgang. In Kita-WhatsApp-Gruppen wird stundenlang über die neue Erzieherin debattiert (die hat so komische Haare und ist außerdem vielleicht lesbisch oder noch schlimmer, Muslima), und falls sich mal mehr als zwei Menschen gleichzeitig verabreden wollen, ist dafür mindestens eine halbstündige Session auf Doodle nötig, einer Website, wo Erwachsene sich gegenseitig sagen können, wann sie leider keine Zeit haben, und dass man den Doppelkopfstammtisch ja auch einfach auf Juni übernächsten Jahres verschieben könne.

Das Problematisieren problematisieren

Die Mittel gegen das Problematisieren sind genauso einfach wie wenig ehrenhaft: eine Prise Ignoranz, ein kleines bisschen Aushalten, ein bisschen Zukunftsoptimismus, ein Hauch Vertrauen, dass ein blöder Tweet von Gottschalk nicht bedeutet, dass man umgeben von Idioten und waschechten Rassistinnen ist. Die Chill-mal-Attitüde der Nullerjahre ist der Überempfindsamkeit und dem skeptische Lauern der Zehnerjahre gewichen. Das moderne Deutschland – ein Haufen verunsicherter Seelchen, menschliche Seismografen von schlechten Schwingungen. Eifrige Dokumentatorinnen von Klein-Klein, von Eigentlich-scheißegal, das einzeln benannt, zerfasert, geteilt und getwittert werden muss, alles im Auftrag eines Problembewusstseins, das nichts schafft außer schlechter Laune, innerer Leere und einer ätzenden Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen-Empörung.

Natürlich ist es absurd, das Problematisieren zu problematisieren. Aber Albernheit, Unbefangenheit und Verzeihlichkeit sind essenziell. Ein ständiges Aburteilen mag langfristig eine Gesellschaft besser machen, kurzfristig macht sie ein Individuum unglücklich und Stand-up-Comedy verdammt langweilig.

Das ständige Nölen aber hält den Schutzschild der Moral vor sich und vergisst sich völlig in Selbstgerechtigkeit. Es ist nämlich gar nicht so, dass jeder empörte Tweet die Welt ein kleines Stückchen besser macht. Dabei ist es keinem Menschen zuzumuten, sich ständig für jeden Gedankengang und jede unglückliche Äußerung rechtfertigen zu müssen, schon gar nicht vor sich selbst.

Sonst eben Sonntagsbrunch

“Chillt mal”, will man rufen, und wie man in den Wald ruft, schallt es “bla-bla-bla” zurück. Zurücklehnen ist was für Zyniker geworden. Wer zuschaut, macht sich mitschuldig, aber wer zumindest missbilligend die Stirn runzelt, katapultiert sich in den moralischen Safe-Space. Da, wo es warm und sicher ist und die Luft etwas stickig vor lauter Überlegenheit.

Dabei wäre eine entspanntere Atmosphäre und ein nachsichtigerer Umgang mit anderen Wert- oder Humorvorstellungen gerade jetzt so dringend nötig. Ja, auch mit allem, was uns in seiner Haltung befremdet. Gerade vonseiten derjenigen, die vehement Toleranz predigen, scheint es schwieriger und schwieriger, über den Dingen zu stehen und Gelassenheit zu praktizieren. Dabei ist Gelassenheit gerade dann wichtig, wenn sie nicht leicht fällt. Dann heißt sie im besten Falle Besonnenheit, und nicht mehr Ignoranz.

Doch je mehr wir die kleinen Unterschiede zwischen uns beleuchten und mikroskopisch untersuchen, desto größer wird der Riss in der Gesellschaft. Natürlich macht es nicht nur Spaß, alle anderen als liebenswerte, aber fehlerhafte kleine Menschenwesen zu sehen, denn dann könnte man ja unter Umständen auch eines sein.

Aber es wäre ein gute Übung für alle Seiten, einfach mal auszuhalten. Zu chillen, wie einst eine weise Achtklässlerin sagte. Und Gelassenheit nicht ständig mit Ignoranz zu verwechseln, nur weil sich das irgendwie gut anfühlt. Zum Gutfühlen ist schließlich der Sonntagsbrunch da.


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