Mittelschichtsphänomen


„… Wir hängen noch immer am Script der nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Es klebt wie ein überholtes Selbstbild an uns fest. „Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, so hatte der Soziologe Helmut Schelsky in den fünfziger Jahren die junge Bundesrepublik skizziert. Er gab dem Land damit einen kleinen Gründungsmythos mit. Und der hält sich bis heute. Obwohl das Land jetzt ein ganz anderes ist, benutzt es noch immer das alte Vokabular. Wenn Begriffe wie Umverteilung oder gar Vollbeschäftigung fallen, wie auch in diesem Wahlkampf, dann spricht eigentlich das Schelsky-Deutschland. Es ist eine Zombie-Sprache, und in ihr verbirgt sich eine Zombie-Identität.

Besonders deutlich wird die deutsche Zombiehaftigkeit in der Fetischisierung des Begriffs Mitte. Die Mitte war einmal die Fiktion, die das Land zusammenhielt. Sie nährte sich aus mehr oder minder geradlinigen Biografien. Gerhard Schröder tat 1998 so, als habe er eine neue Mitte erfunden, und schoss wenig später die Agenda 2010 heraus. Jetzt liegt eine Dekade der Kampf-Flexibilisierung hinter uns – und die Mitte ist nebulöser denn je. Wo genau läge sie denn? Wer gehört dazu? Wie sieht sie aus, was denkt, hofft, fürchtet sie? Definiert sich die Mitte nur übers Geld? Oder auch über die Bildung? Über den Lebensstil? Gar über etwas Wolkiges wie Werte?

Die Eliten nahmen es als gegeben hin, dass es keine Jobs zwischen acht Dollar und einem sechsstelligen Jahresgehalt mehr gab. Sie hatten keine Antworten mehr auf die Probleme der Mittelschicht“, hat der Journalist George Packer jüngst den USA attestiert. Einem Land, das sein eigenes Middle-Class-Märchen pflegt und droht, auseinander zu fliegen. Wir müssen nicht zum großen Bruder herüberschielen, wir wissen es auch so schon: Dass ein Mindestlohn von 8,50 Euro (SPD) oder 10 Euro (Linke) nichts anderes bedeutet, als dass es bald kaum noch normale Jobs gibt, in denen man mehr verdient. Es ist egal, ob gesetzlich oder tariflich: Der Mindestlohn ist wieder eine dieser Zombie-Ideen. Auch deshalb hat sie keine Wähler gelockt…“

Quelle und gesamter Text: http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/im-kalten-nebel


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