Mittagshetze und Nachtexil

Was ist Bildungsauftrag? Bildungsauftrag ist wohl das Einschläfern des Menschen in seine "wohlverdiente" Gedankenlosigkeit. Gedankenlosigkeit ist das gewollte Resultat, sich seines Verstandes unter der Anleitung eines Mediums, das ein "umfassendes Bild der [...] Wirklichkeit" (§ 5 (1), ZDF-Staatsvertrag) vermittelt, zu bedienen. Senderverschuldet ist diese Gedankenlosigkeit, weil die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern des Entschlusses liegt, sich seiner laut Staatsvertrag verpflichtenden Gestaltungen zu entziehen. So oder so ähnlich.
Weniger kantianisch, weniger angekantet ausgedrückt: Bildungsauftrag interpretiert das ZDF so: Sonntags darf zum Mittagessen gehetzt werden - und zwar nicht unterschwellig, und zwar nicht besonders kunstfertig, sondern ganz arglos, völlig hüllenlos. Und kritische Sendungen, die innovative Ansätze postulieren, die Tadel an herrschender Politik üben, die verschwinden tief im Dunkel der Nacht. Wir sprechen von Hahne - und wir meinen Precht. Beide bringt das ZDF unter einen Hut.

Hahne eröffnete seine sonntägliche küchentheologische Sendung neulich mit der Ansage, dass wenn es stimme, dass ein muslimischer Jugendlicher einen Rabbi krankenhausreif geschlagen habe, ob dann nicht der Islam doch radikal sei, der Islamunterricht an Schulen fehlgeleitet. Zu Gast in seiner Sendung, die den integrativen Titel "Wie viel Islam braucht Deutschland?" trug: Friedmann und Kelek, nachweislich zwei Charaktere, die den Islam gerne diabolisieren und mit ihm natürlich all jene, die ihm zugehörig sind. Beide wurden laut ZDF-Portal zu einer "sicherlich kontroversen Diskussion" erwartet. Wie kontrovers ist so eine Diskussion zum Vegetarismus, wenn man zwei Metzger einlädt, um darüber zu sprechen? Wer wäre eigentlich als Gast gekommen, wenn der Rabbi von einem Protestanten verprügelt worden wäre, einem Protestanten, der in seinem Eifer vielleicht Luthers Schrift "Von den Juden und ihre Lügen" unter dem Arm geklemmt gehalten hätte, synchron er schlug? Hätte Hahne den christlichen Religionsunterricht als Ursprung einer solchen Gewaltbereitschaft abgetan?
Wie vereinbart das ZDF dieses Mittagsgehetze mit § 5 (3) des ZDF-Staatsvertrages, in dem man nachlesen kann, dass das ZDF auf "ein diskriminierungsfreies Miteinander hinwirken" solle? "Die sittlichen und religiösen Überzeugungen der Bevölkerung sind zu achten", liest man dort auch. Ist es mittlerweile sittliche Überzeugung, eine Religion zu kriminalisieren, weil eventuell ein etwaiger Religionszugehöriger gewalttätig geworden ist?
Mittlerweile ward es Nacht im ZDF geworden, nachdem der Mittag schon umnachtet war. Es wurde Zeit für jene neue Sendereihe unter Leitung von Richard David Precht. Wissenschaft und Philosophie sollen dort Einzug finden, provokant in den Raum gestellt werden. "Macht lernen dumm?", fragte man in der ersten Ausgabe - und dieser reißerische Titel ist der wesentliche Kritikpunkt; dergleichen müsste nicht sein. Inhaltlich allerdings gibt es wenige Flächen für Kritik. Falsche Methoden der Wissensbildung sind seit Jahren attestiert - der Hirnforschung sei Dank. Auswendiglernen von Vokabeln beispielsweise ist wenig sinnvoll, Sprachen lassen sich nicht auf Abrufbereitschaft erlernen, sondern müssen so beigebracht werden, dass das Muster "Ich will auf Englisch Tisch sagen - Suche nach Tisch im Wortschatz - a table - Einbau in einen Satz, der vorher auf dieselbe Art vorgefertigt wurde" insofern umgangen wird, dass man durch gezielte hirngerechte Schulung Sprachen nicht nur erlernt, sondern verinnerlicht. Sprache ist flexibel, birgt schnelle Reaktionszeiten, geschieht automatisiert - wie wir Sprache büffeln, wird dem nicht gerecht, denn sie ist kein Baukastensystem, jedenfalls nicht in der Praxis. Kleinkinder lernen Sprachen hirngerecht - man kann das nicht kopieren, sich aber daran orientieren.
"Vielleicht liegt es daran, dass ein völlig verändertes Bildungssystem, das nicht nur jedem eine gerechte Chance gibt, sondern kreative, eigenständige und unbequeme Persönlichkeiten hervorbringt, zugleich eine ganz andere Gesellschaft voraussetzt oder entstehen lässt? Das jedenfalls meint Richard David Precht." So schreibt es das ZDF-Portal. Sein Gast Gerald Hüther, Hirnforscher und Bildungskritiker, meint zudem, dass es so betrachtet keine dummen Kinder gäbe - das bürgerliche Bildungssystem mache es dumm. Womit der provokante Titel der Sendung vielleicht doch berechtigt wäre. Dass nun Precht nicht auf Gegenliebe stieß in den Nachbetrachtungen, ist nicht überraschend - da überschritt doch jemand die Demarkationslinie, denn wenn Klugheit sich nicht durch Reichtum bedinge, wenn Armut nicht gleich dumm ist, dann ist das für das bürgerliche Verständnis der Mittelschicht geschmacklos. Armut ist ein Produkt der Dummheit - daran rüttelt man nicht; das Bildungswesen ist in der amtierenden Weise richtig, weil es kluge Menschen weiterhin reich sein läßt. Precht beschwört da einen Bildungsklassenkampf - und wir wissen doch, Klassenkampf ist ausgestorben, es gibt nur noch Mittelschicht und die, die dorthin aufschließen wollen oder sich aus Faulheit und Dummheit nicht dazu aufrappeln können, dorthin zu stoßen.
Die "kulturelle Vielfalt", wie es unter § 5 (2) des ZDF-Staatsvertrages heißt, scheint ja durchaus gegeben. Einerseits Volksverhetzung, andererseits Bildung - einerseits Hahne, andererseits Precht. Da dürfte für jeden etwas dabei sein - und genau das ist die Maxime öffentlich-rechtlicher Sender: alles abdecken, jedem etwas bieten. Und wenn es mittlerweile zur Kultur gehört, stereotype und rassistisch konzeptionierte Parolen ins Land zu plärren, dann ist mit Hahne auch dieses Zuschauerbedürfnis abgedeckt. Warum aber setzt man den Hetzer nicht in die Nacht, wenn schon nicht vor die Türe - und stellt dafür qualitativ hochwertiges Fernsehen, wie es in diesem Lande fast nur die öffentlich-rechtlichen Sender leisten, wenn sie es denn leisten wollen, nicht in die Primetime, nimmt sie raus aus dem Nachtexil? Klar doch, wir kennen die Ausflüchte. Die Leute wollten das nicht sehen, sie sehen lieber ihren Tatort und mittags ihren Hahne, denn Haxe und Hetze klingt fast gleich.
Der Bildungsauftrag ist außer Kraft gesetzt, weil Bildung nicht gefragt ist? Das ist doch fast so, als würden Schüler klarstellen, es habe sich ausgelernt, worauf das Schulwesen einknickt und erklärt: Einverstanden, dann gehen wir eben Baden. So ähnlich treiben es die Öffentlich-rechtlichen; sie verweigern den Auftrag zur Bildung, weil angeblich kein Bedürfnis nach Bildung besteht. Es würden Zuschauer wegschalten, erklären sie - doch ist das so sicher? Passten sich die Interessen der Zuschauer nicht auch dem neuen Konzept an? Es müsste ja nicht immer gleich Precht sein, es reichte weniger, was dennoch bildend sein könnte - damit ist Jauch und Maischberger aber nicht gemeint. Wir sprechen von Bildung und nicht von der Einbildung etwaiger Moderatoren, sie würden politische Sprechstunden abhalten.
Um es mit dem ZDF-Portal zu sagen: Vielleicht liegt es daran, dass eine veränderte Fernsehkultur, die nicht nur jedem einen berieselten Abend gibt, sondern kreative, eigenständige und unbequeme Persönlichkeiten hervorbringt, zugleich eine ganz andere Gesellschaft entstehen lässt! Bildungsaufträge die damit entschuldigt werden, dass kein Bildungsbedarf besteht - Precht hat vermutlich recht, unsere Bildungsmoral ist am Boden; wenn er von der Schule spricht, meint er unbewusst auch die schulischen Aufgaben der Medien: als vierte Gewalt, als Aufklärer, als Bildungsvermittler. Man nimmt zu viel Rücksicht auf die bildungsfernen Schichten, die ihren Tatort und ihren Pilawa sehen wollen. Jeder Pädagoge weiß, dass Bildung auch bedeutet, nachdrücklich zu sein, um die Bildungsthemen zu vermitteln. Freiwillig lernen Schüler nicht immer - dennoch kann man sich nicht dauerhaft zurückziehen und diesen "demokratischen Willen zur Lernunwilligkeit" zu seinem Recht verhelfen. Das gilt eigentlich für Schulen, für Lehrer und für Institutionen, die einen staatsvertraglich vereinbarten Bildungsauftrag haben ...
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