Mitgefühl aus der Perspektive von Sufi Gelehrten

29.10.2016HintergrundKulturKultur

mehriran.de - Aus Anlass eines internationalen Symposiums zum Thema "Mitgefühl in verschiedenen Weltanschauungen" im Januar 2016 in Hyderabad, Indien, trug Dr. Seyed M. Azmayesh die wesentlichen Aspekte dazu aus der Tradition der Sufis in einem kurzen Beitrag für mehriran.de zusammen.

Mitgefühl aus der Perspektive von Sufi Gelehrten

Fariduddin Attar

mehriran.de - Der in Kanada lebende Prof. Daroll Bryant hat im Januar 2016 ein Symposium zu Barmherzigkeit organisiert, zu dem auch Dr. Seyed Mostafa Azmayesh eingeladen war, den Blick auf die Tradition der Sufis zu richten. Im Folgenden veröffentlichen wir den Text auf Deutsch.

"In der Geschichte der Sufis finden sich zahlreiche Beispiele für gelebte Barmherzigkeit. Davon zeugen die Werke einiger Sufi Meister wie Fariduddin Attâr[1], Maulana Dschami[2] oder Nezâmi Gandschavi[3] und besonders in den Gedichten des Sa'adi aus Schiraz[4].

Liebe in einem tieferen Verständnis bedeutet für einen Sufi Meister die Verbindung mit Gott und seiner Schöpfung und seinen Geschöpfen zu erfahren. Wenn sich jemand auf den Schulungsweg des Einswerdens begibt, empfindet dieser Mensch zunächst eine tiefe Sehnsucht, die nicht zuordenbar sein mag. Man fühlt sich zu seinem Lehrer hingezogen. Dann geht man bewusst eine Verbindung ein mit dem geistigen Strom dieses Lehrers, indem man ihm die Hand zur Einweihung reicht. Man sucht immer wieder die Verbindung zum eigenen Herzen im Alltag und bleibt dadurch mit dem Herzen des Lehrers und dem Strom der Liebe verbunden. Nach und nach wächst die Seele wie ein Küken in einem Ei, bis sie stark genug wird, ihre Flügel zu entfalten und die harte Schale zu verlassen.

Unter der Obhut ihres Lehrers werden die kleinen Vögel Übungen anwenden, welche die Entwicklung voranbringen. Die "Nahrung" des Seelen-Vogels ist reine Schwingung, die aus der Verbindung mit dem Lehrer resultiert und durch die Anwendung spezifischer Rhythmen aus dem Kanon der substanziellen Entwicklung. Diese Rhythmen können auf Instrumenten wie der Daff, der Dâyereh oder der Tombak gespielt werden oder rezitiert, gemurmelt oder innerlich gehört werden, während man sich auf den eigenen Herzschlag konzentriert. Diese Rhythmen finden sich in sehr vielen Sufi Gedichten und können von einem erfahrenen Qawwal zu Gehör und zur Wirkung gebracht werden. Sie finden sich auch in den Namen Gottes, von denen es zahlreiche gibt. Die bekanntesten Namen Gottes sind zum Beispiel: Haq (die wahre und tiefste Realität), Huu (der All-Eine) oder der Mitfühlende, der Barmherzige (ar-rahim).

Der erste Teil des Korans, der in Mekka niedergeschrieben wurde, besteht aus Hymnen und meditativen Gebeten, die man im korrekten Rhythmus rezitieren muss, damit sich ihre richtige Wirkung auf das Herz entfaltet.

Die ursprüngliche und authentische Bedeutung des Wortes Islam gemäß der Sufi Tradition und entsprechend der Wurzel des Wortes, kann so beschrieben werden: der Weg von soghm zu selm, was auf Deutsch mit einem Heilungsprozess von einer Erkrankung (soghm) des Herzens zur Genesung des Herzens (selm) beschrieben werden kann.

Wenn ein Sufi sich für eine Weile um diese Entwicklung zu einem genesenen Herzen bemüht hat, wird er oder sie eine Art von Gewissheit über ihre spirituelle Wirklichkeit bzw. ihren geistigen Kern erlangen. Man beginnt zu verstehen, dass man nichts anders als ein Gast auf Zeit und periodischer Bewohner dieser irdischen Leiber ist. Die Sufis erkennen ihre Mission auf der Erde und brauchen nicht an etwas glauben, das sie nicht selbst erfahren.

Somit reinigen Sufis die Staubschichten, die ihr Herz bedecken bis dieses Herz ruhig und rein wird und leuchtend glänzt. Sie machen das durch Anwenden verschiedener Methoden, wie, die Herzverbindung zum Lehrer aufrecht erhalten, das Herz ernähren durch Anwendung Schwingung erzeugender Rhythmen, persönliche Mantren (Dhikr)[5] im Stillen üben und an gemeinsamen Samâ[6] Zeremonien Teil nehmen, eine gewissenhafte Betrachtung der eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen in einer täglichen Rückschau (Mohassebeh genannt). Doch es geht noch weiter. Das hat mit Empathie und Barmherzigkeit zu tun. In einem seiner berühmtesten Gedichte hat Sa'adi eine Bedingung dafür vorgeschlagen, um als Mensch bezeichnet zu werden.

Bàni âdam azâye yek digarand 
Ke dar âfarinesh ze yek goharand 
Cho ozvi be dard âvarad roozegâr 
Degar ozvohâ ra namânad gharâr.
To kaz mehnate digarân bi ghami 
Nashâyad ke nâmat nahand âdami. 

Die Menschenkinder sind ja alle Brüder,

aus einem Stoff wie eines Leibes Glieder.

Hat Krankheit nur ein einzig Glied erfasst,

so bleibt den andern weder Ruh noch Rast.

Wenn andrer Schmerz dich nicht im Herzen brennet,

verdienst du nicht, dass man noch Mensch dich nennet. 

Empathie und Mitgefühl sind also laut Sa'adis Gedicht hoch zu schätzende Eigenschaften und eine notwendige Stufe für die Qualifizierung zum menschlichen Wesen. Aber wie entwickeln Sufis Mitgefühl? Woher stammt das Mitgefühl? Sufis sagen, dass Mitgefühl aus dem Herzen kommt und eine Folge oder vielmehr ein Folgephänomen einer angewandten Handlung ist.

Sa'adi hat eine Geschichte über Mitgefühl hinterlassen, die dieses Prinzip veranschaulicht.

Auf einer seiner ausgedehnten Reisen durch den Nahen Osten, gelangte er nach Damaskus, als dort wegen langer Trockenheit eine Hungersnot herrschte und die Bewohner dem Tode näher waren als dem Leben. Er ging durch die Straßen von Damaskus und sah in die elendigen, fahlen und eingefallenen Gesichter der Bewohner, die dem Verhungern nahe waren. So traf er einen alten Bekannten, der dort Reichtümer angehäuft hatte und in Wohlstand lebte. Sa'adi betrachtete das Gesicht seines Bekannten und sah auch bei ihm die gelbliche und fahle Haut. Darauf sprach er ihn an: "Mein Freund, was ist dir widerfahren? Du siehst genauso elendig aus, wie diese armen Leute um dich! Dein Gesicht ist eingefallen und deine Haut ist gelb. Wie geht es dir?" Der Bekannte antwortete: "Mit all diesen leidenden Leuten um mich herum bin ich selbst so elendig geworden. Ihr Leiden berührt mich, sie dauern mich, ich leide mit ihnen. Jetzt bin ich von ihren Sorgen erfüllt."

Sa'adi reflektiert seine Begegnung im Nachgang und kommt zum Schluss, dass es nicht ausreicht das Leid der anderen nur untätig zu empfinden, sondern in Aktion zu treten und etwas an der Situation zu ändern, die anderen Leid verursacht. Das bedeutet, sein reicher Bekannter hätte einen weiteren Schritt tun können und anstatt nur mitzuleiden, hätte er sein Geld dafür einsetzen können, um Essen für die Armen zu organisieren, die kurz vor dem Verhungern waren.

Hier beschreibt Sa'adi das Prinzip der Ritterlichkeit (javânmardy). Dieses Prinzip bedeutet: es reicht nicht eine Situation zu empfinden, sie muss auch verstanden werden, doch es reicht nicht eine Situation zu verstehen, es muss auch eine angemessene Handlung gemäß den Fähigkeiten und Möglichkeiten jeder Person erfolgen. Dies ist eine ganzheitliche Sichtweise zu Mitgefühl und Barmherzigkeit laut Sufi Lehrern.

Eine weitere Geschichte berichtet von Schibli[7], von dem erzählt wird, dass er einen Sack Mehl in eine Sufi Khanegâh[8] gebracht hatte. Als er den Sack öffnete, sah er darin eine Ameise hilflos von links nach rechts laufen. Schibli fühlte sich schuldig, die Ameise aus ihrer Heimat und von ihren Gefährten entfernt zu haben. Nachts konnte er überhaupt nicht schlafen und anstatt zu schlafen oder zu beten, entschloss er sich die Ameise wieder nach Hause zu bringen.

Diese Geschichte enthält eine Lehre über Mitgefühl. Das Schicksal des kleinen Tieres ließ den Mann nicht unberührt und er setzte den Schmerz eines Lebewesens höher als sein Versprechen zu beten oder das Bedürfnis seines Körpers zu schlafen und handelte, um den Schmerz des Wesens zu beenden.

Viele Geschichten in den Büchern und Schriften der Sufis visualisieren Lehren und Prinzipien in einfacher Form. In der letzten Geschichte erfahren wir, dass Sufis nicht so sehr Wert darauf legen fortgeschritten oder mächtig zu sein oder viele Anhänger zu haben, sondern die Unterweisungen im Alltag anzuwenden - sogar, wenn das bedeutet, das Leben einer Ameise zu achten.

Diese Tatsache führte dazu, dass einige großen Herrscher Sufis als ihre Berater wählten. Lehrer wie Hafis[9] und Sa'adi haben nicht ihre Könige verherrlicht und gepriesen, sondern haben sie mit unerwarteten Gedankengängen herausgefordert, um sie zu lehren Gleichgewicht zu finden, die Kunst einer maßvollen Herrschaft auszuüben und nicht grausam und hart und streng mit dem Volk umzugehen.

Gemäß aller dieser großen Sufi Lehrer ist Mitgefühl die Anwendung geistiger Bewusstheit im Alltag."

© Seyed Mostafa Azmayesh


[1] Fariduddin Attâr ist als Dichter, Sufi Gelehrter und Hagiograph aus Nischapour bekannt. Nischapour war eine bedeutende Stadt des Mittelalters in Chorasan, im Nord-Osten Irans. Attâr lebte im 12. und 13. Jahrhundert. Sein offizieller Name lautet Abū amīd bin Abū Bakr Ibrāhīm. Er wurde über 100 Jahre alt. Sein berühmtestes Werk ist die "Konferenz der Vögel".

[2] Maulana Dschami war mit der Schule Ibn Arabis verbunden. Er gilt als größter Religionsgelehrter und Dichter des 15. Jahrhunderts. Dschami hat reichhaltige Werke als Gelehrter, Mystiker, Historiker hinterlassen. Er gilt als Autor, Komponist zahlreicher Lieder und Hymnen und größter Sufi Dichter seiner Zeit. Sein offizieller Name lautet Mawlanā Nūr al-Dīn 'Abd al-Rahmān or Abd-Al-Rahmān Nur-Al- Din Muhammad Dashti.

[3] Nezâmi Gandschavi war Autor romantischer Geschichten des 12. Jahrhunderts. Er stammt aus Gandscha, einer Stadt des großen Seldschukenreiches, die heute in Azerbaidschan liegt. Sein offizieller Name lautet Dschamal ad-Dīn Abū Muammad Ilyās ibn-Yūsuf ibn-Zakkī, genannt Ilyās. 

[4] Sa'adi  lebte im 13. Jahrhundert. Die Gedichte dieses Sufi Meisters sind von hochstehender Güte und die darin enthaltenen Gedanken sind berühmt wegen ihrer gesellschaftlichen und moralischen Tiefe. Sa'adi ist sehr viel gereist und hatte verschiedene Begegnungen mit Menschen, durch die er tiefe Erkenntnisse erlangte. Sein offizieller Name lautet Abū-Muhammad Muslih al-Dīn bin Abdallāh Schīrāzī.

[5] Dhikr oder zikr oder zekr: einen der Namen Gottes rezitieren wie z.B. Allah Huu (die einzigartige allumfassende Eigenschaft Gottes).

[6] Samâ Musikalische Zeremonie, die von einem Sufi Meister geleitet wird und zur Stärkung eines gemeinsamen Bewusstseins dient.

[7] Schibli war ein Mystiker mit persischen Wurzeln, der am Hof gedient hatte, bevor er sich auf den Weg der Liebe begab. Er soll sehr außergewöhnliches und exaltiertes Verhalten an den Tag gelegt haben. Abu Bakr Schibli lebte im 9. und 10. Jahrhundert. Sein Lehrer war Dschunayd Baghdadi.

[8] Eine Khanegâh ist ein Versammlungshaus der Sufis.

[9] Hafis ist ein persischer Dichter und großer Sufi Lehrer des 14. Jahrhunderts. Goethe hat ihn als Zwilling bezeichnet und fühlte sich von Hafis Werken inspiriert seinen "Ost-Westlichen Diwan" zu schreiben.

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