Mitch McConnell schreibt Reportagen beim Spiegel über den Niedergang der SPD in der Steinzeit - Vermischtes 07.06.2019

Die Serie „Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Yes, Of Course Mitch McConnell Is a Hypocrite

And McConnell was actually one of the more restrained voices among Republicans. The rest of the caucus was routinely quoted as saying, essentially, fuck you, Obama, we'll never consider one of your Democratic hacks. Either way, though, the official excuses didn't say anything about the president and Senate being of different parties, even if that was the obvious subtext. The official excuse was that it was a nigh unbreakable tradition of the Senate to never fill a Supreme Court position that opened up in an election year, full stop. Why does anyone bother defending McConnell on this? I'm not sure. McConnell has practically built his entire career on hypocrisy, and he's never really tried to hide it. He just shrugs, says what he needs to say, and moves on. I don't think he really expects or cares if anyone takes him seriously, but treats public explanations as mere tedious parts of his job. In reality, he believes that whoever's in power should do whatever they can to get their way, and it's naive to think there are any other considerations. He doesn't need anyone's defense on this score. (Kevin Drum, Mother Jones)

Mitch McConnell ist ein Mensch, wenn man den als Charakter in ein politisches Drama schreiben würde, würde sich jeder über den flachen Bösewicht aufregen und ihn eindimensional finden. Der Typ ist so offenkundig ein zynischer Lügner und skrupelloser Intrigant, dass ständig Journalisten und andere Beobachter auf ihn hereinfallen, obwohl wir mittlerweile eine Dekade Erfahrung mit ihm haben sollten, bleibt verblüffend. Es zeigt auch deutlich, wie weit man mit genügend Destruktiv-Willen kommt. McConnell zerlegt die demokratische Ordnung der USA, aber weil er etwas anderes sagt, schafft er, das einfach als Teil der parteipolitischen Auseinandersetzung zu normalisieren. Die größte Gefahr für die liberalen Demokratien weltweit liegt deswegen auch weniger in Figuren wie Trump; sie liegt in Figuren wie McConnell, die in der Lage sind, den ganzen Prozess soweit zu verbiegen, dass er nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Und es gibt keinen guten Ausweg. Wenn die Democrats je die Kontrolle zurückerlangen - was angesichts der Machenschaften McConnells und seiner Spießgesellen zunehmend schwieriger wird - haben sie nur zwei beschissene Möglichkeiten: die Regeln weiter einhalten wie bisher und von McConnell bis zur Bedeutungslosigkeit geblockt zu werden, oder es ihm gleich zu tun und mit massiver politischer Gewalt die Brechstange auszupacken.

2) Assange Indicted Under Espionage Act, Raising First Amendment Issues

Julian Assange, the WikiLeaks leader, has been indicted on 17 counts of violating the Espionage Act for his role in obtaining and publishing secret military and diplomatic documents in 2010, the Justice Department announced on Thursday - a novel case that raises profound First Amendment issues. The new charges were part of an expanded indictment obtained by the Trump administration that significantly raised the stakes of the legal case against Mr. Assange, who is already fighting extradition proceedings in London based on an earlier hacking-related count brought by federal prosecutors in Northern Virginia. [...] Justice Department officials did not explain why they decided to charge Mr. Assange under the Espionage Act - a step also debated within the Obama administration but ultimately not taken. Although the indictment could establish a precedent that deems actions related to obtaining, and in some cases publishing, state secrets to be criminal, the officials sought to minimize the implications for press freedoms. (Charlie Savage, New York Times)

Ich lasse das hauptsächlich als Fundstück für die Fans des gepflegten Bothsiderismus da, und diejenigen die immer noch der Überzeugung sind, dass Obama und Clinton irgendwie schlimmer sind als Trump und seine cronies. Unter Obama war der Umgang mit Whistleblowern und dem gesamten außenpolitischen Programm wahrlich nicht das Gelbe vom Ei, aber er war um Längen besser als unter Trump. Nur interessiert es bei letzterem keine Sau. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich's gänzlich ungeniert, und den meisten Kritikern war es halt am Ende doch wichtiger, Obama zu kritisieren, als dass es ihnen um die Sache gegangen wäre.

3) Betrug, Eitelkeit, Versagen

Aber schon der Titel, „Der Fall Relotius", ist falsch. Zutreffender wäre „Der Fall Spiegel" gewesen. Der neue Report widerlegt nämlich die bis dahin verbreitete Version, das Magazin sei Opfer des raffinierten Tricksers Relotius geworden. Der Bericht ist vielmehr ein erschütterndes Dokument über das Verständnis von Journalismus in einem der führenden deutschen Medienhäuser, aber auch in den Ausbildungsstätten der Branche. So heißt es dort: „Die Reportage wurde zur ‚Königsdisziplin' erklärt. Journalistenschüler lernten, ... Widersprüchliches und Sperriges wegzulassen, schwarz-weiß zu erzählen, Grautöne zu meiden, die Wirklichkeit der Dramaturgie unterzuordnen." Oder auch: „Die Erzählweise, die in Reportageseminaren, zum Beispiel dem des ‚Reporterforums', gelehrt wurde und wird, bedient sich dabei aus dem Werkzeugkasten des Films, der Comics und der Literatur, also der Fiktion." Und schließlich steht dort noch: „Sie [Die Reporter] erzählten dann auch aus ihren Reportagen solche Beispiele, die dann eben mal mehr und mal weniger die wahre Geschichte verfälschten. Aber Einigkeit bestand immer, dass das erlaubt sei." [...] Das Gesellschaftsressort entwickelte sich zu einem ganz eigenen Kosmos im deutschen Journalismus. Kaum ein preisgekrönter Schreiber, kaum eine ausgezeichnete Autorin, die nicht Angebote dieses Ressorts bekam. Und die wenigsten schlugen aus. Das Gesellschaftsressort des Spiegel war das Zentrallabor der deutschen Schönschreiber, der Olymp der schreibenden Branche. So sahen sie sich selbst, und so wurden sie von außen gesehen. [...] Journalismus und Literatur begannen zu verschmelzen. Und niemand intervenierte. In den Redaktionen nicht, in den Ausbildungsstätten nicht, in den Preis-Jurys nicht und auch nicht im wissenschaftlichen Raum. Die Frage, ob das Blatt vor lauter Reportagen und Porträts überhaupt noch ein Nachrichtenmagazin sei, wurde mit Verweis auf die gelegentlichen Scoops der investigativen Kollegen abgebügelt.(Horand Knaup/Hartmut Palmer, taz)

Ich bin absolut kein Fan des Reportagestils, deswegen ist die hier geäußerte Kritik natürlich Wasser auf den Mühlen. Homestories, Berichte aus der Provinz und der ganze Kram mögen zwar gute Literatur sein, aber sie etablieren auf der anderen Seite halt auch bequeme Narrative, auf die dann ständig zurückgegriffen wird. Die gerinnen dann innerhalb kürzester Zeit zum Klischee. Mir wäre es deutlich lieber, wenn der Spiegel sich eine Redaktion für Datenjournalismus gönnen würde. Der hat zwar seine ganz eigenen Probleme, aber der Erkenntnisgewinn ist trotzdem wesentlich größer, und dieser Fokus ist ein wesentlicher Punkt, warum ich so viel englischsprachige Medien lese und so wenig deutsche. Aber das ist letztlich natürlich Geschmackssache.

4) "Man muss den Leuten sagen, dass apokalyptische Zustände auf sie zukommen" (Interview mit Lisa Badum (Grüne) und Lukas Köhler (FDP))

Wenn man Flüge und Schifffahrt da nicht einbeziehen kann - kann man sie überhaupt kontrollieren?Badum: Das ist ehrlicherweise sehr schwierig. Ein Problem ist, dass sich beide aus dem Pariser Abkommen herausgezogen haben und jetzt eigene Regeln machen, die nicht ausreichen. Der internationale Flugverkehr erzeugt etwa 2 bis 5 Prozent der weltweiten Emissionen...Köhler: ... und Schiffsverkehr 5 bis 8 Prozent, je nach Rechnung.Badum: Man könnte sagen: Schiffe dürfen bestimmte Grenzwerte nicht überschreiten oder müssen mit bestimmten Kraftstoffen fahren, sonst dürfen sie nicht in die EU einfahren. Aber einfache Lösungen gibt es nicht.Köhler: Würde man die 24 weltweiten Emissionshandelssysteme verbinden, könnte man viel abdecken. Aber das dauert. Und vorher? In den aktuellen Schiffsflotten gibt es quasi keine Schiffe, die mit Erdgas fahren, die man überhaupt auf grünen Wasserstoff umstellen könnte. Das ist ein Problem. Die internationale Luftfahrt verpflichtet sich im System Corsia darauf, alle zusätzlichen Emissionen über den Stand heute hinaus zu kompensieren. Aber Lisa hat recht: Es wäre gelogen, wenn ich eine einfache Antwort verspräche. [...]Wie schnell könnte man die anderen Bereiche über den EU-Emissionshandel regeln? Der funktioniert über Handelsperioden. Die nächste startet 2021, die danach erst 2030. Das wäre ganz schön spät.Köhler: Bis dahin sollten wir nicht warten. Wir haben aber auch keine Zeit für ineffiziente Maßnahmen wie eine CO2-Steuer. Wir wollen eine Koalition der Vernünftigen schmieden, mit Frankreich und den Beneluxstaaten, und zusammen den Emissionshandel ausweiten. Wenn das nicht gelingt, würden wir Artikel 24 der EU-Handelsrichtlinie anwenden und einseitig die Ausweitung für Deutschland vornehmen.Badum: Die Diagnose stimmt. Wir Grünen glauben nur, dass wir schneller vorankommen, wenn wir über eine Anpassung der Abgaben auf CO2 gehen.Köhler: Wie soll das schneller gehen? Meinen Vorschlag könnte man in sieben Monaten umsetzen. Wir können das Konzept in einem Monat beschließen, vielleicht zwei, weil wir noch mit Frankreich verhandeln müssen. Dann muss die EU-Kommission die Ausweitung sechs Monate prüfen. Fertig.Badum: Wenn es durchgeht. Was keiner weiß. Einem Rechtsgutachten des Umweltministeriums zufolge ist es nicht möglich, Raffinerien und Verkehrsbetriebe zu verpflichten, diese Zertifikate zu kaufen. Damit ist dein Plan im Eimer. (Jonas Schaible, T-Online)

Wo wir gerade bei verschiedenen Journalismusmodellen sind, die T-Online-Redaktion zeichnet sich auch kontinuierlich durch grandiose Artikel und Reportagen aus, und ich sage das nicht nur, weil Deliberation-Daily-Alumni Jonas Schaible da arbeitet. Gerade obiges Interview ist um so viel interessanter als die üblichen Plattformen zum Absondern von Phrasen und Gewinnen von "Gotcha!"-Momenten. Es gab früher im Öffentlich-Rechtlichen auch einige solche Formate, die hauptsächlich der Diskussion und dem Erkenntnisgewinn gewidmet waren, aber die schmutzige Wahrheit ist natürlich, dass die Zielgruppe dafür nicht sonderlich groß ist, und seit die ÖR mit den Privaten zu konkurrieren haben und die Quote nicht mehr ignorieren können, ist für so was kaum mehr Platz. Hier könnte man durchaus das Internet mehr nutzen und solche Formate entsprechend etablieren. Zum eigentlichen Interview: Wenig überraschend neige ich der grünen Sichtweise mehr zu, aber ich finde es ermutigend zu sehen, dass die beiden grundsätzlich miteinander kooperieren und diskutieren können, obwohl sie sich nicht einig sind. Diese demokratische Kultur in Deutschland, in der der parteipolitische Schlagabtausch ritualisiert bleibt und hinter den Kulissen das Tagesgeschäft erledigt wird, ist viel wert und sollte deutlich mehr Wertschätzung erhalten, als sie aktuell genießt.

Tatsache ist aber: Allein im vergangenen Jahr haben die Passagierzahlen im deutschen Luftverkehr um 5,4 Prozent zugenommen. Seit 1990 gab es einen weltweiten Zuwachs an Passagieren von 100 Prozent - in Deutschland sogar 250 Prozent. Die Klimazerstörung durch das Fliegen ist fast so gravierend wie die des Autoverkehrs. Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird der Flugverkehr im Jahr 2050 für fast ein Viertel aller globalen Emissionen verantwortlich sein. Das prognostiziert die Europäische Umweltagentur. Angesichts dieser Zahlen und Prognosen ist es absurd, die Klimawirkung des Fliegens zu relativieren. Im Gegenteil: Das ungebremste und unregulierte Wachstum der Flugindustrie wird über kurz oder lang alle anderen Anstrengungen zur Reduktion der CO2-Emissionen auffressen. [...] Doch selbst in Ländern wie Großbritannien sind 15 Prozent der Bevölkerung für 70 Prozent der Flüge verantwortlich. Es sind bildungsbürgerliche, weltoffene, oft auch politisch progressiv scheinende und grün-links-wählende Menschen, die auf ruinöseste Weise den Planeten bereisen. Dass diejenigen, die den Klimaschutzdiskurs bestimmen, so viel fliegen, erklärt vielleicht auch, warum Klimapolitiker so wenig tun, den Flugverkehr einzuschränken. Und das viele Fliegen lässt sich eben nicht durch punktuelle und symbolisch aufgeladene Nachhaltigkeitspraktiken wie bio-vegane Ernährung, Fahrradfahren oder Ökostrom - so sinnvoll diese auch sind - ausgleichen. (Anne Kretzschmar/Matthias Schmelzer, Die Zeit)

Bei aller Liebe: jeder, der einmal einen Flughafen betreten hat, sieht, dass Geschäftsreisen den mit Abstand größten Teil des Flugverkehrs ausmachen. Hier kann man wieder einmal mit marktwirtschaftlichen Maßnahmen ansetzen. Streicht man die steuerliche Begünstigung des Flugverkehrs, schafft seine steuerliche Absetzbarkeit bei Geschäftsreisen ab und erlaubt eine (vielleicht sogar subventionierte) Absetzbarkeit von Zügen, können die Unternehmen beweisen, wo Leute wirklich fliegen müssen und sich gegenseitig im Wettbewerb darin überbieten, ihre Mitarbeiter CO2-neutral von A nach B zu schicken. Für Otto-Normalverbraucher wird schon alleine die Kostensteigerung, die sich über CO2-Zertifikate (siehe Fundstück 4) und eine gerechtere Besteuerung des Flugverkehrs (Stichwort Kerosinsteuer) ergibt das Problem lösen: Fliegen wird wieder reines Luxusgut, und angesichts seiner verheerenden CO2-Bilanz sollte es das auch sein. Und ja, das ist für grün-links wählende Menschen wie mich ein gewisses Problem. Ich bin gerne Kosmopolit und Weltbürger, und das ist schwieriger, wenn man eben nicht zum Austausch über das Wochenende nach London fliegen kann. Aber was will man machen?

6) Sparmodell: Lehrer in den Sommerferien nicht beschäftigen

Der Freistaat spart sich mit der Methode viel Geld: Er stellt zusätzliche Lehrer vier Wochen nach Schulbeginn oder später befristet als Vertretungslehrer ein und lässt ihre Verträge mit dem Beginn der Sommerferien enden. Die Ferien bekommen die Lehrer also nicht bezahlt. Etwa 800 bayerische Lehrer melden sich deshalb jedes Jahr Anfang August arbeitslos. Neben Bayern ist diese Praxis nur noch in Baden -Württemberg üblich - dort sind es 1.800 Lehrer. [...] Nur Baden-Württemberg und Bayern sind laut der Lehrergewerkschaft GEW "weiter absolut hartnäckig", diese Länder seien praktisch "nicht umstimmbar." Als gutes Beispiel nennt die GEW-Bundesvorsitzende Marlies Tepe dagegen Rheinland-Pfalz: Dort gilt seit diesem Schuljahr die Regelung, dass alle Vertretungslehrer, die vor dem 1. März eines Jahres einen Vertrag abgeschlossen haben und mindestens bis Schuljahresende beschäftigt sind, auch in den Sommerferien bezahlt werden. Laut einem Sprecher des Bildungsministeriums in Mainz ist das "ein Stück Gerechtigkeit und gibt den Lehrkräften Planungssicherheit". (Maximilian Burkhardt, BR24)

Was das ganze Modell so unglaublich bescheuert macht ist, dass es nicht mal signifikant Geld einspart. Es ist ein Paradebeispiel für "Rechte Tasche, linke Tasche". Das Geld fällt nicht im Bildungshaushalt an, der anderen Rechtfertigungsregeln im Parlament unterliegt, sondern im Sozialhaushalt, der vom Verteilungskampf immunisierter ist. Es ist aus politischer Sicht klar, warum das gemacht wird, aber für die Betroffenen ist es ein Desaster. Es wäre ja schlimm genug, wenn die Lehrer sich jedes mal für das finanziell ruinöse und persönlich entwürdigende Sommerloch arbeitslos melden müssten, aber oft genug ist es ja nicht nur eine Frage von einem Monat ALG-I. Die Betroffenen leben in großer Unsicherheit, ob sie im September überhaupt einen neuen Job bekommen, und müssen dann oft kurzfristig (ein oder zwei Wochen umziehen). Diese Dauerumzüge quer durch Baden-Württemberg machen das Aufbauen von Beziehungen oder Familien praktisch unmöglich, sind wahnsinnig teuer und nervenaufreibend. Es ist einfach ein Unding, wie das Land mit seinen Leistungsträgern umgeht.

7) Pädagogik zum Gruseln

Schlechten offenen Unterricht gibt es tatsächlich zuhauf - so wie es schlechten Frontalunterricht gibt, wo der Lehrer oder die Lehrerin über die Köpfe der Kinder hinweg redet. Ein Lehrer, der nur auf die Eigenmotivation seiner Schülerinnen und Schüler setzt und die Klasse bloß moderiert, hat seinen Job nicht verstanden. Doch verstehen sich tatsächlich so viele deutsche Pädagogen, wie Winterhoff behauptet, als passive "Lernbegleiter"? An wie vielen Schulen sind die Noten wie auch die Hausaufgaben komplett abgeschafft? Und wo ist der offene Unterricht die durchgehende Unterrichtsmethode? Glaubt man den Ergebnissen der empirischen Bildungsforschung sowie den Unterrichtsbeobachtungen durch die Schulinspektionen der Länder dürfte eher das Gegenteil der Fall sein: danach beherrscht der traditionelle Lehrervortrag (insbesondere nach der Grundschule) weiterhin den Schulalltag. [...] Nicht redigieren ließ sich der düstere pädagogische Pessimismus, der das ganze Werk des Autors durchzieht. Kinder und Jugendliche sind demnach rein lustbetonte Wesen, die eine kurze Leine benötigen. Wenn Erwachsene den Kindern erklären, warum sie etwas lernen sollen, dann ist das laut Winterhoff im Grundschulalter "schädlich"; dass Schüler ihre Leistungen im Unterricht selbst einschätzen "Unsinn"; Hausaufgaben: "Frühestens wenn das Kind vierzehn Jahre alt ist, können sich die Eltern darauf verlassen, dass es sich aus eigenem Antrieb an den Schreibtisch setzt." [...] Bleibt die Frage nach den Ursachen des Winterhoffschen Erfolgs. Warum kaufen Eltern, Lehrerinnen und Erzieher seine Bücher? Warum folgen sie den verschwurbelten Gedanken eines Psychiaters, dessen wichtigster Therapievorschlag darin besteht, in den Wald zu gehen? Der Kinder als "Monster" bezeichnet und tatsächlich behauptet, mehr als die Hälfte von ihnen seien psychisch gestört. (Martin Spiewak, Die Zeit)

Sarrazin, Winterhoff, Precht, Hüther - sie schreiben alle denselben Mist. Bar jeder Sachkenntnis, aber unter der Fahne der heiligen Empörung und mit dem moralinsauer tropfenden erhobenen Zeigefinger. Und dabei verstecken sie sich immer hinter irgendwelchen scheinbaren fachlichen Qualifikationen, ob "Hirnforscher" Spitzer oder "Kinderpsychiater" Winterhoff. Es ist reiner Kulturpessismus, aber das verkauft sich immer wie geschnitten Brot, egal zu welcher Zeit. Wann auch immer wir in den letzten 100 Jahren schauen, was sich in dem Segment verkauft, es finden sich Bestseller, die bejammern wie schrecklich mittlerweile alles ist und warum die aktuelle Jugend, das Land oder die Familie zerstört werden (gerne auch alles zusammen). Und es ist nie was dahinter. Man sollte diese Typen einfach ignorieren, aber angesichts der riesigen Plattformen, die sie leider genießen, ist das praktisch unmöglich.

8) Die Selbstzerstörung der SPD

Jetzt wäre es unredlich, das alles nur dem armen Gerhard Schröder und seiner unglücklichen Agenda zuzuschreiben. Zumal die Reformen so richtig erst 2003 starteten. Das kann 1999 also nicht erklären. Zum Auseinanderdriften dürfte ebenso beigetragen haben, dass durch die Tarifflucht von Betrieben seit Mitte der Neunzigerjahre immer mehr Beschäftigte nicht mehr nach Tarif bezahlt wurden; oder dass es keine Steuer mehr auf Vermögen gab, was kurz vor Rot-Grün kam. Und dass es in der Krise bis 2005 immer mehr Arbeitslose gab, die per Definition dann natürlich auch weniger Geld haben. Nur macht es all das erstens für diejenigen auch nicht besser, die nun einmal just zu Zeiten des Sozi-Kanzlers auf die eine oder andere Art zu spüren bekamen, dass sie (relativ) ärmer wurden. [...] Selten ist de facto so viel Geld von unten nach oben verteilt worden wie - unter Sozi-Kanzler Schröder. Und das alles, ohne dass das ökonomische Versprechen eingelöst wurde, wonach dank der Reformen am Ende alle mehr Einkommen haben. Heute kriegen trotz wirtschaftlicher Erholung viel mehr Leute nur einen Niedriglohn als vor der Agenda-Zeit. Aufstieg durch Verzicht? Von wegen. (Thomas Fricke, SpiegelOnline)

Ich bleibe dabei. Es war nicht die Agenda2010 unter Schröder, die der SPD das Genick brach. Die Partei hätte das durchaus überleben können. Was ihr das Genick brach war ihr wirrer Versuch, 2005-2009 die CDU rechts überholen zu wollen. Es ist diese Phase des selbstzerstörerischen Leerlaufs danach, die sie herunterzog. Das sieht man ähnlich ja auch bei Labour: Nicht unter Tony Blairs Reformen trieb die Partei weg, sondern im ideenlosen Managment des Niedergangs danach. In beiden Fällen war es der Partei nicht möglich, die negativen Folgen ihrer Reformen aufzufangen. Ich glaube, die aktuelle Todesspirale der CDU fußt auf einem ähnlichen Problem. Nicht die Flüchtlingsentscheidung von 2015 per se ist das Problem, sondern das ideenlose Managment danach, die Unfähigkeit, die Folgen aufzufangen und ein neues Narrativ darum zu schnüren. Aber mittlerweile hat sich das in beiden Fällen so festgefressen, dass ein Umsteuern kaum mehr möglich scheint. "SPD erneuern" ist ja inzwischen schon die Pointe eines Witzes.

Wenn man erst beteuert, etwas nicht zu tun, und es dann halbherzig doch umsetzt - dann hat man in einem einzigen politischen Akt Gegner und Anhänger gleichermaßen vor den Kopf gestoßen. Eine Kunst, die die SPD besser beherrscht als irgendjemand sonst. [...] Der Satz "Das wird es mit der SPD nicht geben!" müsste eigentlich immer lauten: "Das wird es so mit der SPD nicht geben, aber bisschen abgewandelt halt schon." [...] Es würde mich nicht wundern, wenn das nächste Wahlprogramm der SPD überschrieben sein wird mit dem Mantra "Mit uns nicht zu machen!" Dabei ist doch viel wichtiger zu sagen, was eigentlich zu machen wäre. Versprechen zu brechen gehört seit Erfindung demokratischer Politik zu den wiederkehrenden Ärgernissen, das ist nicht neu. Aber etwas anderes hat sich dramatisch verändert in den letzten Jahren. Nämlich die Welt. "Das ist mit der SPD nicht zu machen", bedeutet, öffentlich und lautstark rote Linien zu ziehen. Zugleich ist viel persönliche Überzeugung in diesem Satz vorhanden, er mutet an, als proklamiere jemand eine direkt aus der Seele der Partei herausgewrungene Unumstößlichkeit. Doch die Welt befindet sich 2019 in einer Epoche des heftigen und überraschenden Wandels. (Sascha Lobo, SpiegelOnline)

Passend zu Fundstück 8 hier noch dieser Artikel von Sascha Lobo; ich denke, der spielt mit in dieses Problem der Ideenlosigkeit hinein, das ich angesprochen habe. Die SPD geriert sich seit Jahren nur noch passiv als Verteidiger und Blockierer. Und blockiert und verteidigt wird zudem ein Status Qui, der immer Richtig frappant fand ich das bei den Kommunalwahlen hier in Stuttgart, wo die ganze SPD-Plakatkampagne in der ersten Hälfte des Wahlkampfs daraus bestand, OB Kuhn vorzuhalten, was er alles nicht geschafft hat. Aber wer wählt denn einen kleinen, meckernden Wadenbeißer? Das ist eine Wahlkampagne, die Splitterparteien üblicherweise fahren, aber sicherlich nicht ein schwerfälliger Tanker wie die SPD. Es ist ein einziges Trauerspiel.

10) A White Man's Republic, If They Can Keep It

Dieses Fundstück wiederum passt gut zu Fundstück 1. Die Republicans haben keinerlei Problem, die gesamte Macht des Staates auszunutzen um ihre Minderheitsregierung noch ein Weilchen mehr am Leben zu erhalten. Und das schneidet massiv in die Rechte von Minderheiten. Wie Serwer ja schon richtig sagt ist es bedeutungslos, ob sie dabei wirklich von rassistischen Motiven motiviert sind oder einfach nur in Kauf nehmen, dass Minderheiten so massiv geschadet wird; Fakt ist, dass ein rassistisches Regime entsteht, das die Interessen einer bestimmten Kaste durchsetzen soll.

11) Die Steinzeitfrau jagte wohl auch: Archäologin räumt mit Klischees auf (Interview mit Brigitte Röher)

Bis heute wird das Bild des Jägers und der Sammlerin herangezogen, um ein unterschiedliches Verhalten der Geschlechter zu erklären. Was ist da dran?Brigitte Röder: Die Idee, dass Männer von Natur aus Jäger seien, ist ein Klischee. Das Bild vom mutigen Jäger, der einem Mammut auflauert, finden wir in vielen Schulbüchern, Museen, Romanen oder Filmen. Der Mann soll seit Urzeiten die Familie ernährt haben, während sich die Frau um Kinder und Haushalt gekümmert habe. [...]Woher kommt dann dieses Bild vom Mann als Jäger und der Frau als Sammlerin?
Historisch und ethnografisch ist eine unglaubliche Vielfalt an Geschlechtermodellen, Familien-, Verwandtschafts- und Haushaltsformen belegt. Wer für archäologische Befunde Analogien sucht, müsste also ein breites Spektrum in Betracht ziehen. Interessanterweise fokussieren die meisten Interpretationen aber auf das, was wir von der bürgerlichen Gesellschaft kennen. Etwa die Idee, dass in jedem Pfahlbau eine Kernfamilie wohnte. Studien der Universität Basel zeigen jedoch, dass diese Idee falsch ist. Die Siedlungen waren erstaunlich kurz bewohnt, manche nur acht oder zwölf Jahre. Die Gruppen müssen sich immer wieder aufgeteilt und neu zusammengesetzt haben. Die Vorstellung von Bauernfamilien, die über Jahrhunderte im selben Dorf gelebt haben, muss aufgegeben werden. (Annika Bangerter, Aargauer Zeitung)

Die angeblich so natürliche Geschlechteraufteilung der Steinzeit ist eines der härtesten Klischees überhaupt. Allan und Barbara Pease haben da mit ihrem Dauerbestseller "Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken" Millionen mit gemacht, und viele andere haben es ihnen gleichgetan. Der Blödsinn findet sich auch in diversen Sach- und Schulbüchern, und da Steinzeit üblicherweise ein Thema ist, das vor allem junge Kinder gelehrt bekommen und für das sie sich interessieren, werden die dadurch entsprechend mitgeprägt. Ich finde es auch gut, wie offen Röher damit umgeht, dass wir wenig über die Geschlechterverhältnisse wissen. Die archäologische Beweislage gibt einfach nicht viel her; ein emanzipiert-egalitäres Steinzeitsystem zu fantasieren hilft daher auch nicht weiter. Der für mich wichtigste Punkt ist, dass es im Endeffekt um die Projektion der eigenen Wertvorstellungen auf die Vergangenheit geht - ein sehr häufiges Problem, wenn man sich mit der Geschichte beschäftigt.

Mitch McConnell schreibt Reportagen beim Spiegel über Niedergang Steinzeit Vermischtes 07.06.2019

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