Mit viel Pommes weiß rot… eine Familiengeschichte: “An einem Sonntag im Hallenbad”

Von Ralf Boscher @RalfBoscher


An einem Sonntag im Hallenbad

1. Der sechsjährige Jan rutschte vor Aufregung auf dem Rücksitz hin und her, der betagte, aber tüchtige VW-Käfer vibrierte unter seinem schmächtigen Hintern, als sie über den Hügel nach Rheurdt hineinfuhren. Hui, machte Jan, den Fahrtwind imitierend, als sein Vater den Käfer den Hügel hinabrollen ließ und dieser bergab Geschwindigkeit aufnahm. Jetzt nach rechts abbiegen. Jan kannte die Strecke mittlerweile genau. Seit einigen Wochen fuhren sie jeden Sonntagmorgen hier entlang. Dann noch durch ein paar schmale Straßen, und schließlich lag es am Ende einer langen Geraden vor ihnen: Das Rheurdter Hallenbad. Vater Hoen stellte den Käfer auf einem der letzten freien Plätze auf dem Parkplatz ab. Jan konnte es gar nicht erwarten und krabbelte auf den Beifahrersitz. Dann stiegen sie aus. In der kühlen Herbstluft lag bereits der typische Geruch von Chlor und einer satten Prise Desinfektionsmittel. Jan zog seinen Vater an der Hand zum Hallenbad. Komm! Schwimmen!

Den Sommer zuvor hatte sein Vater es ihm beigebracht, Jan hatte schnell gelernt und schon nach ein paar Wochen auf die Schwimmflügel verzichten können, und seitdem fieberte Jan den Sonntagen entgegen, um sein neu erworbenes Können unter Beweis zu stellen. Vielleicht dürfte er heute wieder ins Erwachsenenbecken? Die Woche zuvor war er neben seinem Vater einige Meter im tiefen Schwimmerbecken geschwommen. Es war zwar ein merkwürdiges Gefühl gewesen, keinen Boden zu fühlen, wenn er seine Füße ausstreckte. Er hatte den Boden noch nicht einmal richtig sehen können, so tief war das Becken. Er hatte ein wenig Schiss gehabt. Aber das hätte er nie zugegeben. Dafür hatte er sich viel zu erwachsen gefühlt, in dem großen Becken. Erwachsene haben schließlich keinen Schiss. Außer seine Mama. Die fürchtete sich vor Wasser. Die war aber auch ein Mädchen, das zählte also nicht. Jan war mutig ins tiefe Wasser gestiegen und geschwommen. Allerdings war er heilfroh gewesen, dass sein Vater neben ihm schwamm und aufpasste. Aber auch das hätte er nicht zugegeben. Schließlich war ein großer Junge, und die brauchten keinen Aufpasser. Außerdem war der Beckenrand nur eine Armlänge entfernt gewesen…

Sie betraten das Gebäude. Vater Hoen bezahlte, und sie gingen in die Umkleidekabine. Jan wollte einen eigenen Spind, denn dann würde er einen eigenen Schlüssel haben, den er sich um das Handgelenk binden konnte. Genauso wie es alle großen Jungs machten. Vater Hoen gab ihm lächelnd einen Euro für das Spindschloss. Jan war so aufgeregt, dass er seine Anziehsachen einfach in den Spind hineinwarf, ohne sie an die dafür vorgesehenen Haken zu hängen. Er schaffte es kaum, vernünftig in seine Badehose zu schlüpfen, denn in Gedanken war er schon im Wasser. Das Schlüsselband um sein dünnes Handgelenk zu schließen, war auch nicht so einfach. Natürlich lehnte er das Angebot seines Vaters, ihm dabei zu helfen, empört ab. Dann war es geschafft, sie stellten sich kurz unter die Dusche und betraten die Schwimmhalle.

2. Es war ganz schön etwas los. Die beiden Becken, das Schwimmer- und das Kinderbecken, wimmelten nur so von Köpfen und im Wasser rudernden Armen. Kindergeschrei übertönte die Musik, die aus den Lautsprechern in der Decke herabrieselte. Die Trillerpfeife des Bademeisters schrillte, als ein paar größere Jungs vom Beckenrand ins Wasser sprangen. Papa Hoen summte vor sich hin, als sie zu den orangefarbenen Sitzen über den Heizungsrohren gingen, die unterhalb der beschlagenen Glasfront der Halle angebracht waren, um ihre Handtücher abzulegen. Immer wieder Sonntags kommt die Erinnerung… Trotz der enormen Geräuschkulisse hatte er den Schlager erkannt, den der Radiosender in diesem Moment spielte. Dann standen Vater und Sohn, beide die Hände in die Hüften gestützt und ihre vom Umfang so unterschiedlichen Bäuche unbewusst vorgereckt, auf dem schmalen Gang, der Schwimmer- vom Kinderbecken trennte. Was meinste, sollen wir es wieder versuchen?, fragte Vater Hoen und nickte zum Schwimmerbecken hinunter. Klar!, antwortete Jan, aber ihm war doch ein wenig mulmig zumute. Im Becken tummelten sich die Schwimmer, das Wasser war aufgewühlt und nicht so ruhig wie beim ersten Mal, als er dort geschwommen war. Ob er überhaupt genug Platz haben würde? Würde ihn auch niemand übersehen und einfach über den Haufen schwimmen?

Aber seine Besorgnis war unbegründet. Während er langsam und mit größter Konzentration am Rand entlang schwamm, einatmen, ausatmen, die Hände zusammen und dann in langer Bewegung das Wasser nach hinten drücken, genauso wie es ihm sein Vater gezeigt hatte, schirmte der mit seinem Körper alle anderen Schwimmer von seinem Sohn ab. Vater Hoen trat neben Jan Wasser, sodass niemand seinen Versuch, sich im Brustschwimmen zu üben, stören konnte. Nur einmal sprangen zwei der größeren Jungs vom Beckenrand einfach über die beiden hinweg und eine größere Welle schwappte Jan ins Gesicht. Er erschrak und verschluckte sich so arg, dass er sich hustend am Beckenrand festhalten musste. Als aber der erste Schrecken vorbei war, ging es auch schon weiter. Einatmen, ausatmen… Toll machst Du das!, lobte Papa Hoen ihn, und Jan freute sich so über das Lob, dass er einen Augenblick unkonzentriert war und wieder Wasser schluckte. Gut, dass er Weißbrot gefrühstückt hatte, das saugte das ganze Wasser in seinem Magen auf und sorgte dafür, dass es nicht so rumgluckste.

3. Nach einer Weile aber waren Jans dünne Arme ein wenig schlapp, und er brauchte eine Pause. Er hätte dies nicht zugegeben. Aber er war froh, als sein Vater meinte, es sei genug für heute, Jan solle doch noch ein wenig im Kinderbecken rumplanschen und er würde ein paar Bahnen schwimmen. Jan kletterte die Leiter hinauf und setzte sich einen Moment auf einen der warmen Sitze über der Heizung. Er sah seinem Vater zu, wie jener durch das Becken kraulte. Das werd‘ ich auch bald können!, dachte er träumend und rieb sich seine chlorroten Augen. Du siehst ja aus wie ein Kaninchen!, sagte seine Mutter immer, wenn sie vom Schwimmen nach Hause kamen.

Jan setzte sich dann auf die Stufen, die auf ganzer Front in das Kinderbecken hineinführten. Das Wasser reichte ihm gerade bis zu den Hüften, und es war wärmer als das im Erwachsenenbecken. Das war angenehm, Jan erzeugte kleine Fontänen, indem er seine Hände wie zum Gebet verschränkte und dann mit einem Ruck ins Wasser drückte, sodass ein schmaler Strahl aus der Lücke zwischen Daumen der einen und Zeigefinger der anderen Hand hervorspritzte. Das Becken hatte sich mittlerweile beträchtlich geleert, die meisten Kinder waren mit ihren Eltern nach Hause gefahren, es war Mittagessenzeit. Jan beobachtete die zwei verbliebenen Kinder bei ihren Schwimmversuchen. Du wirst es doch wohl schaffen, den Kopf über Wasser zu halten!, brüllte der eine Vater seinen Sohn beinahe an, der jedes Mal, wenn sein Vater ihn losließ, prustend unterging. Vater Hoen hatte seinen Sohn nie angebrüllt. Jan war froh, er glaubte nicht, dass Schwimmen ihm Spaß machen würde, wenn er es so hätte lernen müssen. Das andere, wesentlich jüngere Kind planschte, getragen von Schwimmflügeln, im Wasser herum, während seine Mutter, gerade einmal bis zu den Knie im Wasser, kopfschüttelnd danebenstand und diesen ungeduldigen Vater beobachtete. Als dieser Junge wieder einmal mit hochrotem Kopf und Wasser spuckend an die Oberfläche kam – Jan musste grinsen, es sah doch ein wenig ulkig aus – stand Jan von den Stufen auf und ließ sich auf dem Rücken liegend zum tiefsten Punkt des Kinderbeckens treiben, der unterhalb jenes schmalen Ganges lag, an dem Kinder- und Schwimmerbecken zusammentrafen. Selbst hier reichte ihm das Wasser nur knapp bis über den Bauchnabel, wenn er sich hinstellte. Während die Mutter und ihr Kind das Becken verließen, hielt Jan sich auf dem Rücken liegend am Beckenrand fest und tauchte, während er mit seinen Beinen knapp unterhalb der Wasseroberfläche Fahrrad fuhr, bis zu seinen Ohren unter.

Mit den Ohren unter Wasser fühlte sich Jan, als wäre er in einer anderen Welt. Ein angenehmes Rauschen dämpfte die Ermahnungen dieses unangenehmen Vaters, die Trillerpfeife des Bademeisters hörte sich an, als puste jemand durch Watte. Jan glaubte die Maschinen zu hören, die das Wasser der Schwimmbecken umwälzten. Aber vielleicht war dieses leise Pochen auch nur sein eigener Puls, der in seinen Ohren wiederklang. Er blickte zur Decke empor, die – so hellblau wie sie war – ihm das Gefühl gab, unter Wasser zu sein. Ich kann unter Wasser atmen!, dachte Jan grinsend, Ich bin der Aqua-man! In diesem Augenblick sprangen zwei der älteren Jungen über ihn hinweg ins Kinderbecken hinein, vor Schreck ließ Jan die Kante des Beckens los und sein Kopf sank unter Wasser. Dieses Mal schaffte er es, die Luft anzuhalten und kein Wasser zu schlucken. Ein paar Mal ruderte er mit seinen Armen, um zu schwimmen und aufzutauchen, dann fiel ihm ein, wo er sich befand und setzte seine Füße auf den Boden und stellte sich hin. Einen ordentlichen Schwung Wasser schluckte er, als er sich aufrichtete und Luft holen wollte, denn einer der beiden Jungen spritzte ihm eine Ladung Wasser ins Gesicht. Treffer!, rief der Junge lachend und schlug noch einmal mit der flachen Hand so auf die Wasseroberfläche, dass ein breiter Strahl sich über Jan ergoss. Der drehte sich dieses Mal aber rechtzeitig zur Seite, sodass das Wasser nicht sein Gesicht traf. Dieses traf dann aber der andere Junge, der ihm von der anderen Seite mit beiden Händen Wasser ins Gesicht schaufelte. Jan rieb sich seine Augen, die vom Chlor im Wasser ein wenig brannten und tränten. Oh, muss der Kleine weinen!, spottete der eine Junge, der andere sagte: Wohl ein wenig wasserscheu! Nein!, gab Jan trotzig zurück, bin nicht wasser… Wasserscheu hatte er sagen wollen, aber dieses Mal bekam er von beiden Jungs eine Ladung Wasser ab und verschluckte sich. Er musste husten und rang nach Luft. Dass der eine Junge meinte: Das wollen wir doch mal sehen!, bekam er nur am Rande mit. Plötzlich verlor Jan den Boden unter den Füßen, der Junge hatte ihm die Beine weggezogen, und ging unter Wasser. Das ging so schnell, dass Jan gleich noch einmal Wasser schluckte. Er versuchte sich aufzurichten und den Kopf aus dem Wasser zu bekommen, aber da waren auch schon beide Jungen über ihm und drückten ihn unter Wasser.

Jan schlug und trat um sich, versuchte von den Jungs weg- und seinen Kopf aus dem Wasser herauszubekommen, aber die waren viel stärker als er und außerdem zu zweit. Jan hatte keine Angst, noch nicht, er war wütend. Er hörte sie lachen. Zwei gegen einen, die feigen Schweine! Dann konnte er sich für einen Moment losmachen und kam japsend an die Oberfläche. Als er Luft holte, sah er, dass das Gesicht des einen Jungen vor Schmerz verzehrt war. Jan hatte es gar nicht mitbekommen, aber bei seinem Versuch, sich zu befreien, hatte er den Jungen dorthin getreten, wo es richtig wehtut. Kaum dass er ein wenig Atem geschöpft hatte, stürzte sich auch schon der andere Junge wieder auf ihn. Er sprang aus dem Wasser heraus und auf Jan, drückte ihn mit dem ganzen Gewicht seines zehnjährigen Körpers unter Wasser. Dieses Mal hielt Jan die Luft an und schaffte es, seitlich von dem Jungen wegzugleiten und wieder an die Oberfläche zu kommen. Genau vor dem Jungen, den er getreten hatte, kam er hoch. Der Schmerz auf dessen Gesicht war Wut gewichen, und mit dieser Wut im Bauch krallte er seine Hände in Jans Haar und drückte seinen Kopf unter Wasser. Jan zappelte wie ein Fisch an der Angel, und in diesen Momenten gesellte sich Angst zu seiner Wut. Was ihn ängstigte, war weniger, dass die Luft in seinen Lungen knapp wurde, sondern mehr der wütende Gesichtsausdruck des Jungen. Für einen kurzen Moment des Atemholens kam Jan hoch. Er hörte diesen Vater zu seinem Sohn sagen: Siehst du, das kommt davon, wenn Du den Kopf nicht über Wasser hältst! Plötzlich wurden seine Beine festgehalten. Der eine Junge klemmte sie sich lachend unter den Arm. Jan hatte nun keine Möglichkeit mehr, sich hinzustellen. Er versuchte, den Griff zu lösen, drehte und wendete sich. Zwecklos. Lachend presste der Junge Jans Beine an sich und hielt sie knapp über der Wasseroberfläche. Der andere Junge drückte Jans Kopf unter Wasser, und der lachte nicht. Dieses kleine Detail war es, mit dem die Panik in Jan hochzusteigen begann. Er ruderte mit seinen Armen, versuchte, den Jungen zu packen und von sich wegzudrücken. Jan drehte seinen Kopf hin und her, aber der Junge ließ nicht los. Die Luft wurde knapp. Die Panik war da. Das Rauschen des Wassers hatte nun nichts Angenehmes mehr an sich, das Pochen seines Herzschlages in seinem Ohren wurde immer lauter. Plötzlich wusste Jan, dass er ertrinken würde, wenn es ihm nicht gelang, sich zu befreien. Verzweifelt stemmte sich Jan gegen die Hände, die ihn unter Wasser drückten. Und für einen kurzen Augenblick schaffte Jan es tatsächlich, den Kopf aus dem Wasser zu bekommen, für einen kurzen, brennenden Atemzug, den er dafür nutzte, um Hilfe zu rufen. Papa!, vier helle Buchstaben, die sich nach Unterstützung flehend in die Luft erhoben. Jan schluckte erneut Wasser, als der eine Junge kräftig an seinen Beinen zog und er wieder unter Wasser ging. In diesem Moment erreichte sein Hilferuf das Ohr des Bademeisters, der aus seiner Kabine, mit der großen Glasfront zum Schwimmbad hin, trat. Jan unterdessen wurde schwarz vor Augen, er hatte das Wasser in die Luftröhre bekommen und hustete unter Wasser, schnappte in Todesangst nach Luft, aber da war nur Wasser. Von weit her hörte er den einen Jungen lachen, von noch weiter her schrillte die Trillerpfeife des Bademeisters, kaum zu hören, weil sein Herzschlag in seinen Ohren pochte, und immer lauter und schneller pochte, wie Trommeln schließlich dröhnte.

4. In diesem Moment kam Vater Hoen von der Toilette. Er war ein paar Bahnen geschwommen, hatte dann nach seinem Sohn im Kinderbecken geschaut, der auf dem Rücken liegend am Beckenrand Fahrrad fuhr und lächelnd zur Decke starrte, und war dann kurz auf die Toilette gegangen. Als er ins Schwimmbad zurückkam, schrillte die Pfeife des Bademeisters, der zum Kinderbecken hinübersah. Sofort schrillten bei Vater Hoen die Alarmglocken. Über den gute zwanzig Meter entfernten Rand des Kinderbeckens hinweg konnte er die Köpfe zweier älterer Jungen, nicht aber Jan sehen. Er machte einen, dann einen zweiten Schritt, dann schrie er entsetzt auf und begann zu rennen.

Jan unterdessen hörte auf, sich zu wehren. Er war in einer Woge dunklen Dröhnens gefangen und rührte sich nicht mehr. Dann begann sich sein Herzschlag aus seinen Ohren zurückzuziehen, das Dröhnen wurde leiser, und es wurde langsamer. Die gesamte Welt erschien Jan langsamer zu werden, das Lachen des einen Jungen, der immer noch seine Beine festhielt, wurde zu einer dumpfen Folge lang gezogener Vokale, herabgestimmt auch das Schrillen der Trillerpfeife, für Jan klang es wie das langsame Entweichen von Luft aus einem Reifen. Jan fühlte sich plötzlich sehr schwer, sein ganzer Körper schien sich mit Blei anzufüllen, und dieses Gefühl war noch nicht einmal unangenehm. Jan spürte, wie mit zunehmender Schwere seine Angst weniger wurde. J-A-N! Einzeln kämpften sich die Buchstaben seines Namens durch die Wand aus Blei, die sich zwischen Jan und die Welt senkte. Er verstand kaum noch ihren Sinn, und doch klangen sie vertraut, und so streckte er ihnen mit letzter Kraft eine Hand entgegen. Die Finger seiner schmalen Hand streckten und schlossen sich. Streckten und schlossen sich.

In diesem Moment sprang Vater Hoen ins Wasser. Er hielt sich nicht lange mit Reden auf, sondern fegte den Jungen, der blöde lachend die Beine seines Sohnes festhielt, mit einer Armbewegung zur Seite. Der andere Junge bekam eine solche Ohrfeige, dass es ihn seitwärts ins Wasser schmiss. Zügig, aber behutsam hob er dann seinen Sohn aus dem Wasser.

Plötzlich fiel alles Schwere von Jan ab, er fühlte sich federleicht, und einen Moment lang glaubte er, zu fliegen. Den blauen Himmel sah er über sich, so nah, als könne er ihn berühren.

JAN!, Vater Hoen hielt seinen reglosen Sohn im Arm und rief nach ihm, einen grauenhaften Augenblick lang hielt er Jan für tot, Ich bin zu spät gekommen!, explodierte der Gedanke in seinem Herzen. Einen grauenhaften Augenblick lang fühlte er sich vollkommen hilflos, eine schreckliche, ewige Sekunde lang. Doch bereits einen Herzschlag später organisierte sich der Widerstand in ihm. Niemals!, schrie jede seiner Fasern, Das lasse ich nicht zu! Gerade in dem Moment, als Papa Hoen seinen Mund auf die Lippen seines Sohnes pressen wollte, um ihm seinen Atem zu geben, bewegte sich Jan. Sein dünner Arm zuckte empor, seine Finger streckten und schlossen sich, verkrallten sich im Bart seines Vaters, gleichzeitig hustete er und spuckte seinem Vater einen Schwall Wasser auf die behaarte Brust. Vater Hoen traten Tränen in die Augen. Papa, Du weinst ja! Dies waren Jans erste Worte. Vater Hoen schniefte einmal und drückte seinen Sohn erleichtert an sich. Das liegt daran, sagte er, dass Du noch immer an meinem Bart ziehst! Das ziept ganz schön!

Jan ließ den Bart seines Papas los und schlang seine Arme um seines Vaters Hals. Nun war wieder alles gut. Er füllte seine Lungen mit Luft. Da hast Du uns aber einen mächtigen Schrecken eingejagt!, ließ sich der Bademeister vernehmen, der verlegen und scheinbar um Jahre gealtert danebenstand, war er sich doch bewusst, viel zu spät reagiert zu haben. Jan war zwar noch ein wenig wacklig auf den Beinen, aber dennoch wollte er wieder auf eigenen Füßen stehen. Sein Vater setzte ihn ab. Nur Flausen im Kopf, die Blagen von heute!, mischte sich dieser Vater ein, der die ganze Zeit tatenlos zugesehen hatte, Wenn das meine wären, denen würde ich aber den Hosenboden strammziehen!

Vater Hoen verließ wortlos Hand in Hand mit seinem Sohn das Becken und ging, während der Bademeister den beiden Jungen die Leviten las, denen jetzt erst klar wurde, was sie getan und beinahe verschuldet hatten, mit Jan zu den Handtüchern, die auf den orangefarbenen Sitzen lagen. Setz Dich für einen Moment hin und wärm‘ Dich ´was auf!, sagte er zu Jan und strich ihm lächelnd über den Kopf, dann wurde er ernst: Und trockne Dich schon mal ab! Ich hab‘ noch ´was zu erledigen.

Während Jan sich mit seinem Handtuch die Haare trocken rubbelte, ging sein Papa zu diesem bereits wieder mit seinem Sohn schimpfenden Vater hinüber. Vater Hoen machte nicht viele Worte. Mein Junge geht fast ´drauf, und sie stehen dumm wie Schifferscheiße daneben! Dümmlich grinsend zuckte der Mann mit den Schultern, dann klappte er stöhnend um seine Körpermitte zusammen.

Etwas später ließen Vater und Sohn das Rheurdter Hallenbad hinter sich. Bis nächste Woche!, rief Jan zu dem Gebäude hinüber. Das hatten sie bereits in der Umkleidekabine abgemacht. Zeigst Du mir nächste Woche, wie man krault?, hatte Jan beim Ankleiden gefragt, Brustschwimmen und tauchen kann ich ja schon. Dann hatten sie gelacht. Ich hab‘ Hunger!, meinte Jan, als sie in den Käfer einstiegen. Mal schauen, was Mama uns heute zaubert!, antwortete Vater Hoen und rieb sich schnell über die Augen. Er war unsagbar glücklich, dass alles so gut ausgegangen war. Dieses Mal sah Jan nicht die Tränen in den Augen seines Vaters, er malte etwas auf das beschlagene Seitenfenster, dass ein halbes Hähnchen darstellen sollte. Ein halbes Hähnchen hätte ich am liebsten!, meinte er verträumt. An das schlimme Erlebnis dachte er schon nicht mehr. Mit viel Pommes weiß rot! Vater Hoen lachte. Ja, mit einem ganzen Berg Pommes rot weiß!

Ungekürzte Kurzgeschichte “An einem Sonntag im Hallenbad” aus meinem Buch “Pommes weiß rot, Papagei und Tod. Familiengeschichten.

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