Ja, die bisherige Griechenlandpolitik der Institutionen ist nicht gerade etwas, was eine Auszeichnung verdient. Die wirtschaftliche und soziale Lage in Griechenland ist katastrophal, und sie verschlimmert sich stetig. Die Renten immer weiter zu kürzen und immer mehr Menschen aus der Krankenversicherung zu drängen ist kaum etwas, das die Wirtschaft ankurbeln wird. Gleichzeitig steht auch nicht zu erwarten, dass die bisher durch die Bank gescheiterten Verwaltungsreformversuche der Griechen besonders viel Zutrauen erwecken und das Land für die Investoren viel attraktiver machen, die jede wirtschaftliche Gesundung benötigt. Die Griechen haben Recht, den Forderungskatalogen der Institutionen zu misstrauen. Die Institutionen haben Recht, den Reformversprechen der Griechen zu misstrauen. Aber zwischen 2010 und 2014 hatte sich ein Modus herausgearbeitet, der berechenbar war: Griechenland brauchte Geld, wurde zu Austerität gezwungen, wurde ärmer und brauchte mehr Geld, worauf mit mehr Austerität reagiert wurde. Begleitet wurde dies von einem Trommelfeuer pejorativer Medienberichte über Griechenland, die diese Politik moralisch aufluden und damit einer sachlichen Debatte weitgehend entzogen.
Jedem konnte dabei klar sein, dass dieser Prozess für extreme soziale Verwerfungen sorgen und das Land in Armut stürzen würde. Das wurde auch von niemandem ernsthaft bestritten. Die Protagonisten dieser Politik argumentierten allerdings, dass diese Anpassungen notwendig seien, weil Griechenland durch die verfehlte Aufnahme in den Euro über seine Verhältnisse gewirtschaftet hatte, eine Annahme, die zuletzt auch in eher progressiveren Kreisen Anklang fand. Sobald also ein Equilibrium erreicht sei, würden die niedrigen griechischen Löhne und Sozialstandards einen Neuanfang und Aufschwung ermöglichen. Nun ist das unzweifelhaft wahr. Eine Volkswirtschaft kann nicht unendlich schrumpfen; irgendwann ist finis graecae erreicht. Nur wie die Deutschen aus eigener Erfahrung wissen sollten ist es unwahrscheinlich, dass das Volk sich bei den Kürzern bedanken wird. Denn wenn mein reales Einkommen um mehr als die Hälfte fällt und ich von einer Mittelschichtenexistenz unter die Armutsgrenze rutsche, während meine Kinder nur die Arbeitslosigkeit und dieselbe Armut als Aussicht haben, ist es mir relativ egal, ob es in 20 Jahren wieder besser aussieht. Ich will, dass es jetzt besser aussieht. Zu denken, dass rein ökonomietheoretische Argumentationen per Fiat ins griechische Bewusstsein zu befehlen sind, war einer der größten Irrtümer der Institutionen. Schon Marx wusste, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt.
Der Wahlerfolg von Syriza im Januar 2015 war das sicherste Zeichen, dass die Griechen mehrheitlich nicht länger bereit waren, das europäische Narrativ und die daraus resultierenden Maßnahmen zu ertragen. Obgleich Tsipras und Varoufakis von Anfang an das Ziel betonten, Griechenland im Euro zu halten, hatte sich das Spiel geändert. Von Anfang an war die Möglichkeit von radikaleren Maßnahmen eingebaut. Das lag in der Natur der Sache, war Syriza doch eine radikale Partei. Jede Beteuerung, mit Europa und im Euro arbeiten zu wollen, hatte auch zugleich eine implizite Ankündigung inbegriffen, im Zweifel zu radikalen Maßnahmen zu greifen. Syriza beging ironischerweise den gleichen Fehler wie die Institutionen und glaubte, mit ökonomischer Logik eine politische Krise lösen zu können. Die Annahme Varoufakis' und Tsipras', man könne in Europa eine Allianz gegen das deutsche Dogma der Austeritätspolitik finden, war von Anfang an hoffnungslos naiv (ich habe das im April beschrieben). Die Argumente für und gegen einen Schuldenschnitt waren auch in Brüssel bekannt. Niemand brauchte einen Varoufakis, um sie erklärt zu bekommen, und die Vorstellung, dass man in den Hinterzimmern des EU-Parlaments oder des IWF eine offene Debatte über die Zukunft Griechenlands austragen könnte, war geradezu albern, schien aber tatsächlich geglaubt worden zu sein. Die Einschätzung des Bloomberg Magazine, Tsipras regiere Griechenland wie einen Studentenprotest, geht an der Wirklichkeit nicht allzuweit vorbei.
Nun hatten die Institutionen zwei Dinge, die die Griechen nicht hatten: Zeit und Geld. Sie spielten ihr Spiel daher weiter. Forderungen, kleine Zugeständnisse, Verhandlungen. Syriza aber hatte einen Wandel versprochen. Und den konnte sie nicht liefern. Das Unvermögen, eine europäische Allianz aufzubauen, die auch nur kurz gegen die Deutschlands und der Institutionen bestehen könnte, verschloss sämtliche Möglichkeiten. Was blieb waren schöne Reden und gute Debattenbeiträge, gemischt mit Ausweisen politischer Unerfahrenheit, die allesamt letztlich irrelevant waren. Syriza fand sich, getrieben vom Druck der Innenpolitik von der einen und der unbeweglichen Front der Gläubiger auf der anderen Seite, in derselben Sackgasse, in der sich Papandreou und Samaras auch schon gefunden hatten. Syriza allerdings hatte keine Skrupel, die im Wortsinne populistische Karte zu spielen und den gordischen Knoten zu durchschlagen. Das Referendum ist eine klare Absage an die Institutionen und eine Stärkung des Syriza-Mandats.
Sollten Tsipras und Varoufakis ihre eigene Rhetorik allerdings tatsächlich glauben und davon ausgehen, dass eine Einigung nun wahrscheinlicher geworden ist, so sind sie schief gewickelt. Sie teilten dann den typischen Irrtum der Linken zu glauben, dass nur linke Politik demokratische Legitimation besitzen kann. Auch die 18 anderen Eurostaaten haben demokratisch legitimierte Regierungen, und es kann wohl kaum ein Zweifel bestehen, wie eine Volksabstimmung in der Slowakei, Deutschland oder Finnland bezüglich Griechenlandhilfen oder Schuldenschnitten aussehen würde. Hätten die Regierungen Europas die populistische Karte gespielt, die Tsipras jetzt gezogen hat, so wäre Griechenland bereits 2010 aus dem Euro ausgeschieden. Vielleicht wäre das das beste gewesen - das ist eine Frage, die Historiker werden klären müssen. Aktuell spielt Syriza nur Le Pen, Fortuyn und Farage in die Hände und bedient niedere Instinkte jeder Demokratie.
Dass es soweit gekommen ist ist auch die Schuld einer moralistisch überhöhten EU-Politik, die Griechenland so lange an die Wand gedrückt hat, bis es für die Griechen attraktiver schien, den Sprung ins Dunkle zu wagen als weiter die bekannten Pfade zu gehen. Die Vorstellung, dass diese Krise auf Griechenland beschränkt bleiben und den Rest der EU unangetastet lassen würde, ist, vorsichtig ausgedrückt, mindestens ebenso naiv wie die von Syriza, eine Volksabstimmung in Griechenland würde Wählerpräferenzen in Deutschland ändern. Das europäische Projekt ist so gefährdet wie nie zuvor, und seine Gegner stehen schon in den Startlöchern. Sie stehen dort schon seit Jahren, warten nur auf eine Gelegenheit wie die, die ihnen Syriza gerade geliefert hat. Das macht auch die ungewöhnlich scharfe Rhetorik überzeugter Europäer wie Martin Schulz deutlich. Demokratie bedeutet Kompromisse, und die Europäische Union bedeutet die Aufgabe von Souveränität unter die der Gesamtheit, ob einem das im Einzelfall passt oder nicht. Syriza hat einen Konsens, den die Institutionen bereits ins Wanken gebracht haben, damit vollends aufgelöst. Die Gewinner sind die Feinde der Demokratie. Das Referendum war nicht der Beginn eines neuen, besseren Europa. Wenn wir Pech haben, war es der Schwanengesang des Alten.