Am Samstag bekommen in Britannien zahlreiche Starbucks- Filialen unerwünschten Besuch: Die Flashmob-Initiative UK Uncut ist wieder unterwegs. Und ramponiert womöglich das Image des US-Konzerns.
Von Pit Wuhrer, London
Sie treffen sich in Stadtzentren, Einkaufsstrassen und auf Plätzen. Sie haben Flugblätter dabei, kennen ihre Rechte, sind über das Ziel ihrer Aktion informiert und kommen in guter Begleitung. Und sie werden fast überall sein: in Liverpool, Cardiff, Bristol, Sheffield, Glasgow und in zwei Dutzend weiteren Städten, London inklusive. «Das Vorgehen ist einfach. Wir gehen rein, informieren die Beschäftigten über den Zweck unseres Tuns, klären die Konsumenten darüber auf, bei wem sie gerade einkaufen, und halten den Laden für ein paar Stunden besetzt.» Molly Solomons freut sich auf die Aktion, die seit Wochen angekündigt ist und via Facebook und Twitter immer höhere Wellen schlägt.
Die 26-jährige Angestellte eines Londoner Thinktanks ist Mitglied von UK Uncut, einer basisdemokratisch organisierten Flashmob-Gruppe, und kann sich noch gut an die Anfänge erinnern. Es begann im Oktober 2010, die britische Regierung hatte gerade die ersten Einschnitte ins Sozialsystem beschlossen, die Empörung war gross. Aber was tun? Demonstrationen bewirken ja nichts, «die werden von den Mächtigen seit langem ignoriert», sagt Solomons. Und da hätten sie, eine kleine Gruppe von AktivistInnen, durch einen Zeitungsartikel erfahren, dass die konservativ-liberale Regierung dem Mobilfunkkonzern Vodafone eine Steuerschuld in der Höhe von sechs Milliarden Pfund (umgerechnet knapp neun Milliarden Franken) erlassen habe. «Dabei hatte diese Regierung gerade verkündet, dass sie aus Budgetgründen die Sozialhilfe um sieben Milliarden Pfund kürzen werde!» Also seien sie durch die Oxford Street gezogen, der Haupteinkaufsstrasse von London, «und haben ein paar Stunden lang die nächstgelegenen Vodafone-Läden besetzt».
Die Resonanz war umwerfend. Die Medien berichteten ausführlich über die Aktion, zwei Wochen später kam es im ganzen Land zu 35 Besetzungen von Vodafone-Filialen, die Anti-Kürzung-Initiative UK Uncut war geboren. Es blieb nicht bei Vodafone. Auch die Läden der Drogeriekette Boots, die Boutiquen des Modeunternehmens Topshot oder die Supermärkte von Tesco erhielten Besuch. Boots, weil der britische Konzern sein Hauptquartier 2008 in den Kanton Zug verlegt hatte; Topshot, weil dessen Eigner die Profite nach Monaco transferiert; Tesco, weil sich auch dieses Unternehmen aus Steuergründen eine hochkomplexe Firmenstruktur zugelegt hatte.
Eine einfache Botschaft
Innerhalb weniger Monate weitete sich die Kampagne aus. UK-Uncut-AktivistInnen besetzten Bankfilialen, weil die teure Bankenrettung die Staatsverschuldung in die Höhe getrieben hatte, und richteten dort Kinderhorte ein – nach dem Motto: «Ihr habt die Krise verursacht, wir zahlen dafür, Kindergärten werden geschlossen, also nutzen wir jetzt bei euch den Raum, der uns weggenommen wird.» Sie protestierten im Oktober 2011 mit einer Blockade der Westminster Bridge gegen die Teilprivatisierung des Nationalen Gesundheitswesens NHS, demonstrierten im Mai 2012 vor der Wohnung des stellvertretenden Premierministers Nick Clegg und okkupierten im August 2012 das Arbeitsministerium.
«Unsere Botschaft ist simpel und vielleicht gerade deswegen wirksam», sagt Molly Solomons: «Wenn alle ihre Steuern zahlen würden, wären die Kürzungen nicht nötig.» Dieses Argument komme überall gut an, auch bei den Beschäftigten jener Filialen, die man gerade besetzt halte. Denn deren Gehälter – oft auf Mindestlohnniveau – würden ja besteuert. Die Profite ihrer Firmen hingegen nicht. Sie seien natürlich nicht als Erste auf diese Idee gekommen, fügt die junge Frau mit den hellwachen Augen hinzu. Seit Jahren weisen Gruppen wie das internationale Tax Justice Network auf die fehlende Steuergerechtigkeit hin. «Aber deren ausgefeilte Argumentation hat niemand so recht begriffen. Wir bringen sie mit unseren Aktionen auf den Punkt.»
Das sieht auch Alistair Alexander so, mit vierzig Jahren fast schon ein Veteran der Bewegungen. Er war in der Anti-Irakkrieg-Koalition aktiv, hatte bei den direkten Aktionen der Klimabewegung mitgewirkt und trieb die Occupy-Bewegung voran. «Die Öffentlichkeit hat die UK-Uncut-Besetzungen sofort verstanden», sagt der Webmanager des Hilfswerks Action Aid International. «Viele sind über die Kürzungen schockiert, aber erst durch UK Uncut und Occupy fand der weitverbreitete Ärger einen Ausdruck.» Dazu hätten sie es geschafft, fügt er hinzu, der Debatte eine andere Richtung zu geben: «Vorher wurden nur Regierungsentscheidungen kritisiert, jetzt aber steht das ganze System zur Diskussion.» Dass Occupy nicht mehr präsent sei, habe mehrere Gründe – man sei zunehmend mit sich selbst beschäftigt gewesen, die kleinen Repressalien (vgl. «Harte Auflagen» im Anschluss an diesen Text) hätten ihre Wirkung nicht verfehlt, und ausserdem «müssen Bewegungen ständig etwas Neues bieten: Du kannst nicht immer dasselbe tun.» UK Uncut sei das ein Stück weit gelungen.
Die Steuervermeider
Jedenfalls habe es die Initiative geschafft, so Alistair Alexander, das Thema «Steuerflucht» ganz oben auf die Agenda zu setzen. Das kann man wohl sagen. Derzeit veröffentlichen die Medien fast jeden Tag neue Details über die Steuervermeidungstricks grosser Konzerne, sogar konservative Blätter kritisieren den laxen Umgang der Steuerämter mit Unternehmen, und als Mitte November der Finanzprüfungsausschuss des Unterhauses die Verantwortlichen von Google, Amazon und Starbucks zum Gespräch bat, staunten selbst konservative Abgeordnete über die Unverfrorenheit der Firmenvertreter. Und so dringt allmählich ins öffentliche Bewusstsein, dass die Gewerkschaft PCS mit ihren Berechnungen nicht daneben lag: 2010 hatte diese Gewerkschaft des öffentlichen Diensts eine Studie veröffentlicht, derzufolge der Staatskasse jährlich 120 Milliarden Pfund (umgerechnet rund 180 Milliarden Franken) durch Steuerhinterziehung, Steuervermeidung sowie nie eingetriebene Steuerschulden entgehen. Das ist pro Jahr mehr, als die gesamten Haushaltskürzungen der Jahre 2010 bis 2015 ausmachen.
Bei der Anhörung des Parlamentskomitees und durch Recherchen kam heraus, dass kaum ein Konzern die vorgeschriebenen 24 Prozent Unternehmenssteuern zahlt (2007 lag der Satz noch bei 30 Prozent des Gewinns). So entrichtete beispielsweise Google (alle Zahlen beziehen sich auf Britannien und das letzte Finanzjahr) gerade mal 3,4 Millionen Pfund Unternehmenssteuern – und das bei einem Gesamtumsatz von 2,5 Milliarden Pfund und einer globalen Durchschnittsrendite von 33 Prozent. Das ergibt einen Steueranteil von 0,4 Prozent. Die Firma wickelt ihre Geschäfte über Irland ab; dort liegt der Unternehmenssteuersatz bei 12,5 Prozent. Facebook zahlte für seine Einkünfte in Höhe von 175 Millionen 240 000 Pfund (Steueranteil: 0,13 Prozent). Amazon UK (Umsatz: über 200 Millionen Pfund, Steuern: 1,8 Millionen) kanalisiert seine Einnahmen via Luxemburg. eBay (Umsatz: 800 Millionen, durchschnittliche Rendite: 23 Prozent, Steuerbeitrag 1,2 Millionen) nutzt ebenfalls Luxemburg. Und Apple hat bei einem Umsatz von über einer Milliarde der Staatskasse schätzungsweise 14,4 Millionen Pfund überwiesen.
Besonders frech ist Starbucks mit seinen über 800 britischen Filialen. Der Kaffeehauskonzern hat in den vergangenen drei Jahren überhaupt keine Steuern bezahlt und seit 1998 dem Schatzamt trotz eines Gesamtumsatzes von über drei Milliarden nur 8,6 Millionen zukommen lassen. Die Firma schreibe seit Jahren Verluste, behauptete Konzernmanager Troy Alstead bei der Anhörung vor dem Finanzprüfungsausschuss. Der Trick: Starbucks bezieht den Kaffee zu überteuerten Preisen von einer Tochterfirma in der Schweiz und zahlt seiner Niederlassung in Holland hohe Lizenzgebühren.
Bündnis mit Frauengruppen
«Wegen Firmen wie Starbucks sind in den vergangenen Jahren zahllose Büchereien, Jugendzentren und weit über hundert Kinderkrippen geschlossen worden», sagt Molly Solomons, «im öffentlichen Dienst wurden Zehntausende Stellen gestrichen.» Die Kürzungen treffen Frauen besonders hart. Vor allem sie verlieren ihre Jobs im Service public (Solomons’ Mutter wurde nach jahrzehntelanger Arbeit ebenfalls gekündigt), die Kürzungen im NHS gehen vorwiegend zulasten des weiblichen Personals, und Frauen, die noch einen Arbeitsplatz haben, können ihrer Tätigkeit wegen der Einsparungen im Kindergartenbereich kaum noch nachgehen. «Als dann Frauengruppen uns um Hilfe baten, haben wir natürlich zugesagt.» Und so werden an diesem Samstag vor allem Frauen Starbucks-Filialen besetzen. Sie bringen Kinder und Spielsachen mit, werden mobile Notrufzentralen einrichten und Schlafsäcke dabei haben – denn viele Zufluchtsorte wie Frauenhäuser oder Obdachlosenheime leiden ebenfalls unter den Kürzungen. «Wenn wir damit den Ruf von Starbucks ruinieren, soll mir das recht sein», sagt Solomons.
Die Frauenaktion ist nicht das erste Bündnis, das UK Uncut eingeht. Anfang Jahr kontaktierte die Behindertenorganisation Disabled People Against Cuts die AktivistInnen: «Sie hätten weder die Ressourcen noch die Erfahrung, die Leute oder das Geld für einen wirksamen Protest, sagten sie uns», erinnert sich Solomons. UK Uncut sprang ein: Ende Januar blockierten zwanzig RollstuhlfahrerInnen die Oxford Street, umringt von 200 UnterstützerInnen. Die Aktion war in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens stellte die herbeigeeilte Polizei fest, dass sie dieses Mal niemanden verhaften konnte: Ihre Vans waren nicht rollstuhltauglich. Und zweitens – das freut Molly Solomons besonders – lernten die Behinderten schnell. «Als wir ihnen später nochmals unsere Unterstützung anboten, lehnten sie dankend ab. Das könnten sie jetzt alleine.»
Harte Auflagen
Wer sich ohne Bewilligung Zutritt zu einem Kraftwerk, einer Startbahn oder einem Geschäft verschafft, kann in Britannien wegen Hausfriedensbruch belangt werden. Allerdings kommt es nur selten zu einer Verurteilung. Nach der umstrittensten UK-Uncut-Aktion, der Besetzung des Edelkaufhauses Fortnum & Mason im März 2011, wurden nur 8 von 145 Verhafteten zu Gemeinwesenarbeit verknurrt. Aber alle 145 sassen 24 Stunden in Einzelhaft, auch Molly Solomons.
Folgenschwerer sind die Polizeiauflagen nach der Freilassung. Die Verdächtigen dürfen sich während der ein bis zwei Monate dauernden Ermittlungen nicht mehr treffen und nicht mehr in die Nähe des besetzten Objekts kommen. Gegen neunzehn BesetzerInnen des Gaskraftwerks West Burton (Oktober 2012) wurde sogar eine Ausgangssperre verhängt: Sie müssen von 19 bis 9 Uhr zu Hause bleiben. «Die Auflagen und der langwierige Prozess zermürben die Aktivisten viel mehr als die Urteile», sagt Alistair Alexander.
Notschlafstellen im Staarbucks: Nachtrag vom 13. Dezember 2012
Am Donnerstag letzter Woche gab die britische Tochter des US-Kaffeehauskonzerns Starbucks bekannt, dass sie in den kommenden zwei Jahren jeweils zehn Millionen Pfund Unternehmenssteuern bezahlen wolle. Damit komme Starbucks UK einem «lauten und deutlichen» Wunsch der Kundschaft nach, sagte der britische Starbucks-Manager Kris Engskov. Das Unternehmen hat in den vergangenen Jahren in Britannien keine Steuern gezahlt.
Die geplanten Aktionen der Initiative UK Uncut konnte es damit allerdings nicht verhindern. Das Angebot sei eine Frechheit und völlig ungenügend, urteilte UK Uncut. Und so kam es am Samstag nicht – wie erwartet – zu 30 Besetzungen von Starbucks-Filialen, sondern zu 45. Von Southampton bis Aberdeen, von Cornwall bis Newcastle, verwandelten vor allem Frauen die Cafés in Kinderkrippen, Frauenhäuser, Notschlafstellen. Viele Starbucks-Beschäftigte begrüssten die Aktion. Denn ihnen hatte das Management letzte Woche neue Verträge vorgelegt: Verzicht auf die bezahlte Mittagspause, keine Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag, Kürzungen beim Mutterschaftsgeld.
Die Steuertricks von Starbucks und die Berichte über die schlechteren Arbeitsbedingungen haben einen stillen Boykott ausgelöst. Auch er werde Starbucks nicht mehr betreten, verkündete sogar Danny Alexander, liberaler Chefsekretär des Schatzamts und hochrangiges Kabinettsmitglied. Laut einer Untersuchung der Manchester Business School könnte ein Boykott den Konzern bis zu einem Viertel des Umsatzes kosten. Denn in fast jeder Strasse gibt es eine Alternative: Das britische Unternehmen Costa Coffee hat ebenfalls über 1300 Filialen. Und es zahlt seine Steuern. Im letzten Finanzjahr waren es achtzehn Millionen Pfund.