Mittagsruhe
Quelle: Helmut Mühlbacher
heute möchte ich Euch eine Geschichte von Anna Fynn erzählen:
„Lieber Mister Gott!“
Heute schreibe ich Dir über meinen Freund Fynn.
Es gibt ja welche, die nicht genau wissen, wie Fynn ist, und das find ich traurig, weil Fynn, das ist der beste Mensch von der Welt.
Er ist sehr groß und stark, aber er ist trotzdem sehr nett und sehr lieb.
Er kann mich mit Schwung in die Luft werfen und dann auch wieder auffangen.
Wie ein schöner Baum ist er. Aber das weißt Du ja auch.
Fynn sagt, wenn man in einem Haus wohnt, wo die Scheiben ganz schmutzig sind, und guckt raus, dann meint man, die Welt draußen ist so schmutzig, dabei ist die es gar nicht.
Und wenn man von draußen reinguckt ins Haus, dann denkste, es ist innen ganz schmutzig, aber das stimmt auch nicht.
Es sind immer nur die Fenster, die schmutzig sind.
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Und Fynn sagt deshalb nämlich, dass alle Menschen zwei verschiedene Arten von Fenstern haben: die Augenfenster, davon haben sie zwei, und das Herzfenster, davon hat jeder Mensch nur eins.Die Augenfenster sind da, um rauszugucken,
und das Herzfenster ist da, um nach innen reinzugucken.
Wenn man weint, sagt Fynn, dann ist das nicht nur wegen was Traurigem.
Es ist auch dafür, dass man mal die Augenfenster putzen muss.
Wenn sie dann sauber geworden sind von den Tränen, kann man besser durchgucken und dann ist die Welt wieder viel heller als vorher.
Manchmal guck ich lieber durchs Herzfenster wie durch die Augenfenster.
Weil, draußen kenn ich bald alles, was es zu sehen gibt.
Aber wenn ich durchs Herzfenster nach innen reinguck,
da seh ich immer Neues. Bei mir auch.
Denn von innen, sagt Fynn, kennt sich niemand so gut, wie er seinen Garten kennt oder die Leute von gegenüber.
Und das ist, weil das Augenfenster aus anderem Glas ist.
Nach draußen, durch die Augenfenster, siehste meistens klarer, findet Fynn.
Aber ich glaub, ich seh mit dem Herzen besser.“
Ihr Lieben,
als ich mich vor etlichen Jahren mit den Haupttätern aus meiner Jugendzeit, einem Jungen und einem Mädchen, zu einem Gespräch verabredete, um darüber zu sprechen, was damals geschehen war, da war ich vor dem Gespräch sehr aufgeregt und ich spürte tief in mir drin, auf ein Gefühl der Wut und des Zorns aufkeimen.
Ich sah vor meinem geistigen Auge plötzlich wieder den Jungen und das Mädchen, die mich auf brutale Weise geschlagen hatten, die mich erbarmungslos gequält und gefoltert und ohne Mitleid gedemütigt hatten.
Als ich diese beiden Menschen dann zum Gespräch traf, begegneten mir zwei Menschen, die sehr ehrlich zu mir waren, die sich aber schon äußerlich aufgrund ihres inzwischen fortgeschrittenen Alters völlig von den beiden Personen unterschieden, die mich damals so misshandelt hatten.
In dem Gespräch erkannte ich, dass ihnen die damaligen Geschehnisse sehr leid taten und sie sich schämten, jemals so gehandelt zu haben.
Diese Erkenntnis ermöglichte eine tiefgreifende und
ergreifende Versöhnung zwischen uns.
Deshalb gefällt mir die heutige Geschichte auch so gut:
Wenn wir die Geschehnisse in der Welt richtig beurteilen wollen, dann müssen wir immer dafür sorgen, dass unsere Augenfenster frisch geputzt sind, sonst kann es geschehen, dass wir die Welt nur deshalb für schlecht halten, weil unsere Augenfenster schmutzig sind.
Unsere Augenfenster können nicht durch gewöhnlichen Schmutz verunreinigt werden.
Der Schmutz auf unseren Augenfenstern kommt dann zustande, wenn wir Vorurteile übernehmen, statt uns selbst eine eigene Meinung zu bilden, er kommt dann zustande, wenn wir nicht bereit sind, unser Denken zu verändern („Ich habe schon immer gewusst, dass dieser Mensch nichts taugt!“), und er kommt dann zustande, wenn wir glauben, besser zu sein als andere Menschen und vor allem fehlerfrei.
Deshalb sollte es uns eine große Freude sein, unsere Augenfenster zu putzen und die Welt und die Menschen in ihr so zu sehen, wie sie wirklich sind.
Noch besser aber sehen wir mit dem Herzen, das haben uns schon der Kleine Prinz undAntoine de Saint-Exupery beigebracht.
Mit dem Herzfenster zu schauen, das bedeutet, Verständnis für den anderen Menschen aufzubringen, das bedeutet, ihn verstehen zu wollen, das bedeutet, entscheidend ist nicht, dass ich Recht habe, sondern dass ich mich mit dem anderen Menschen versöhne und ihn liebe.
Ich wünsche Euch einen heiteren Nachmittag und grüße Euch wieder einmal herzlich aus meinem kleinen Garten
Euer fröhlicher Werner
Quelle: Karin Heringshausen