Bildquelle: Sueddeutsche.de
Beim Humanistischen Pressedienst hat eine Serie begonnen, in denen Missbrauchsopfer ihre Leidensgeschichte erzählen. Der erste Artikel, der gestern erschien, erzählt vom Schicksal einer Frau Roswitha Weber. Wer das lesen kann, ohne ohnmächtig vor Wut zu werden, ist unfähig zu Empathie. (Der Text ist sehr lang, aber man sollte sich dazu durchringen, ihn in Gänze zu lesen.) Nicht umsonst steht vor Beginn des eigentlichen Textes: “Dieser Bericht enthält Inhalte, die bei traumatisierten Menschen Erinnerungen an eigene schmerzhafte Erlebnisse wecken können. Bitte achten Sie auf Ihre Belastbarkeitsgrenzen.”
Roswitha war ein lebhaftes Kind, wollte alles wissen und spielte gerne mit den anderen Heimkindern. Für die Schwester Marte auf der Krabbelstation war sie zu wild beim Spielen, sie nahm einen Strick und band Roswithas rechtes Bein an einem Stuhlbein fest.
Nach einigen Stunden Stillsitzens, vergaß die Kleine, dass sie angebunden war und lief mit dem ganzen Stuhl durchs Zimmer. Die Nonne Marte war aufgebracht, jetzt ging sie mit einem anderem abgeschnittenen Stück Strick anders vor. Sie nahm jetzt beide Beine von Roswitha und band sie an einem Tischbein fest. Aufstehen konnte sie nun nicht mehr und es gab, weil sie weinte, noch zusätzlich einige Ohrfeigen und Schläge auf den Hinterkopf.
Ich bin nicht in der Lage, zu zitieren, was über das Essen der Heimkinder berichtet wird. Es ist so ungeheuer, es ist (im wahrsten Wortsinn) unglaublich. Ich habe beim Lesen Tränen in den Augen gehabt und eine ohnmächtige Wut auf die “heiligen” Schwestern empfunden.
Mir ist bewusst, dass eine Verallgemeinerung nicht statthaft ist. Allerdings auch, dass das Schicksal von Roswitha Weber kein Einzelfall ist. Dieses System hatte Methode.
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In der Süddeutschen Zeitung von gestern erschien ein Interview mit dem Vorsitzenden der Deutschen Evangelischen Allianz, Jürgen Werth. (Die Evangelische Allianz ist ein Dachverband der evangelikalen Kirchen in Deutschland.) Im Interview wird insbesondere danach gefragt, weshalb mindestens zwei Erziehungsratgeber der Allianz die Prügelstrafe für angemessen halten.
In dem Gespräch versucht Werth – wie immer, wenn kritische Fragen laut werden – vor allem darauf zu verweisen, dass die evangelische Allianz der Zusammenschluss verschiedener Gruppen und Grüppchen ist, die allein entscheiden, was sie für angemessen halten.
Wie immer: kein Kreuz. Wie immer: andere sind gemeint. Wie immer: wir können nichts dagegen tun. Also soll es so ein, wie es ist.
Was für eine unendliche Feigheit.
Es klingt aufgeklärt und diesseitig, wenn sich Werth hier gegen die Prügelstrafe ausspricht, gar die kritisiert, die sich aus der Bibel “passende Passagen” herausnehmen, um sich selbst Moralvorstellungen zu definieren. Wobie ich mich wirklich frage, ob der Mann die Bibel kennt:
sueddeutsche.de: Man kann Kinder auch anders unter Druck setzen als mit körperlicher Gewalt. Zum Beispiel mit Drohungen, sie kämen in die Hölle, wenn sie bestimmten Einflüssen aus der Umwelt nachgeben würde.
Werth: Wenn so etwas vorkommt, dann distanziere ich mich davon genauso deutlich wie von der körperlichen Züchtigung. Da wird Kindern ja das Bild vermittelt, Gott sei der große Oberpolizist. Aber Gott ist unser liebender Vater im Himmel.
Gott ist also der “liebende Vater im Himmel”. Hat Werth je von der Sintflut gehört? Als der “liebende Vater” alles Leben auslöschte?
Die Hölle kommt bei Jesus selten vor. Man muss das richtig verstehen. Die Hölle ist die Trennung von Gott. Der Gott der Bibel ist der liebende Gott, der alles versucht, um seine Menschen zurückzulocken. Auch mit Drohungen, klar – aber nicht um sie zu knechten, sondern um sie frei zu machen
Diese Jesus-Fixierung zeigt, dass die Evangelikalen das Alte Testament gern vergessen machen würden. Und nur die “Liebe Jesu” als verkündigungswürdig sehen. Blöd nur, dass auch der – laut Bibel – nur zu denen liebevoll war, die ihm folgten. Der Rest der Menschheit ist nicht menschlich.
Und daher kommt die Haltung, dass man Kinder zu Menschen prügeln müsse, dass deren Willen gebrochen und sie geduckte Untertanen zu sein hätten. All das Klugsnaken eines Herrn Wirth ändert nichts daran.
sueddeutsche.de: Sie sagen, nicht alles, was im Alten Testament steht, taugt für unsere Gesellschaft. Aber Abraham zum Beispiel hat mit seinem absoluten Willen, sich Gott zu unterwerfen, für Gläubige heute noch Vorbildcharakter. Warum soll man einerseits Abraham als Vorbild ernst nehmen – andererseits aber die Empfehlungen, den Nachwuchs mit der Rute zu züchtigen, nicht? Abraham war immerhin bereit, das eigene Kind zu töten.
Werth: Abraham hatte den Eindruck, Gott nimmt das, was er mir geschenkt hat, wieder weg. Und das ist sein gutes Recht, denn er ist Gott. Kann man das auf das Prügeln übertragen? Wenn irgendwas von mir verlangt wird, was den Anweisungen des Neuen Testaments widerspricht, dann kann das nicht von Gott sein. Luther hat eine herrliche Auslegungsmethode für die Bibel empfohlen. Es komme darauf an, “was Christum treibet”. Die Bibel muss immer im Sinne Jesu ausgelegt werden.
Ich übersetze das mal: “Nimm Dir aus der Bibel, was Dir passt und bastel Dir Deine Privatmoral.” – das ist im Übrigen genau das, was er anfangs des Interviews als “nicht statthaft” befand:
Wer einfach wild aus dem Alten Testament irgendwelche Bibelverse herausgreift und danach seine Ethik ausrichtet, der hat ein Problem. Man muss schon auf die Gesamtbotschaft der Bibel hören.
Immer so, wie es gerade passt. Innerhalb eines Interviews, innerhalb weniger Zeilen (und Minuten) widerspricht sich Werth.
Ach so, ja, auf die Prügelstrafen wird in dem Interview dann nicht weiter eingegangen. “Passt scho” wird sich die Süddeutsche gedacht haben.
Nic