Die Titel der Longlist rufen und wollen gelesen und besprochen werden, doch mir gehen die Gespräche mit Lola Wolf immer noch im Kopf herum. Die letzten Seiten von “Winternähe” sind längst gelesen und doch fällt es mir unsagbar schwer, die Geschichte los zu lassen, mich von Lola zu verabschieden. Lange ist mir keine Romanfigur so nahe gekommen, wie sie.
Etwa 35 Jahre alt, lebt Lola ein unstetes Leben in Berlin, bis sie eines Tages nach Israel reist. Denn hier lebt Shlomo. Ein Mann, der Lola viel bedeutet. Außerdem ist ihr die Stadt Berlin zu kalt, zu glatt, zu eben. Tel Aviv ist bunt, verrückt und spontan. Außerdem nervt der aufkommende Antisemitismus in Deutschland und Frankreich sie sehr. Gerade hat sie eine sehr persönliche Erfahrung damit machen müssen. Ein weiterer Grund, nach Israel zu reisen, ist ihr dort lebender Großvater Gershom. Lola besucht ihn gern und oft, besonders seit dem Tod seiner geliebten Frau Hannah. Von der Großmutter Hannah, die – im Gegensatz zum ewig schweigenden Gershom – immer gern und viel über den Holocaust redete, hat Lola viele Lebensweisheiten gelernt. Unter anderem auch diese: Man kann sagen und machen, was man will, aber man muss am nächsten Tag noch in den Spiegel schauen können – ohne Scham! (S. 23). Zwischen den Großeltern und Lola besteht eine ganz besonders innige Beziehung. Denn bei ihnen ist sie aufgewachsen, hat ihre Kindheit am Kollwitzplatz verbracht. Lola war sieben Jahre alt, als ihr Vater Simon 1986 in den Westen geflüchtet und ihre Mutter Petra mit einem anderen Mann verschwunden ist.
Lolas gesamte Lebenshaltung ist deshalb von den Großeltern und deren Aufrichtigkeit sowie Ehrlichkeit geprägt. Ohne Scham sagt und tut sie Dinge, die ihr in den Sinn kommen. Sie verklagt – gegen den Rat ihres Anwalts – zwei “Freunde”, die ihr auf Facebook ein Hitlerbärtchen angemalt hatten. Und verliert die Verhandlung, weil sie laut Aussage des Richters nach den Gesetzen der Halacha keine Jüdin sei und der angemalte Hitlerbart deshalb nicht antisemitisch gemeint gewesen sein kann. Nach den Gesetzen der Halacha muss die leibliche Mutter jüdisch sein. Lolas jüdischer Vater mache sie nicht zur Jüdin. Ganz klar, dass Lola daraufhin beschließt, eine “echte Jüdin” zu werden. Ihr Vorhaben bricht sie ebenso überraschend schnell wieder ab, da sie all die neue Besinnung auf Religion als albern und lächerlich empfindet.
So extrem spontan, wie Lola eben ist, so mitfühlend ist sie auch. Geht es jemandem schlecht, den Lola liebt, dann wird in ihrem Körper eine Ameisenkolonne aktiv. Geht es Lola selbst schlecht oder wird sie verbal verletzt, dann jammert und klagt sie nicht. Auch wieder ein Wesenszug, den ich total mag an ihr. Sie ist konsequent und analysiert sofort: Was ist mir passiert? Was bedeutet das für mich und mein Leben? Was kann ich damit machen? Und wenn das eben heißt, nach Israel oder Thailand zu gehen, dann geht Lola dorthin!
Lola konnte einen doppelten Schmerz fühlen. Den Schmerz der ursprünglichen Verletzung und den, der aus der fehlenden Anerkennung der Verletzung entstand. Lola begriff, dass dieser zweifache Schmerz sie begleiten würde und dass er sie just in diesem Moment fundamental veränderte (S. 58).
Fast könnte ich mir eine Fortsetzung vorstellen und – ja – auch wünschen. Noch mehr mutige und aufrichtige Lola-Aktionen. Noch mehr Spontanität und Selbstreflektion. Noch mehr Sex und Liebe –
Mirna Funk erhält für ihr Debüt den Uwe-Johnson-Förderpreis 2015. Die Klappentexterin hat die Autorin interviewt, sie über den Nahost-Konflikt, Selbstfindung und die Lola-Figur befragt. Und sie hat eine ebenso begeisterte Rezension zu “Winternähe” geschrieben.
Mirna Funk. Winternähe. S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt am Main 2015. 343 Seiten. 19,99 €