oder Reflexe aus der schädlichen Lehre.
Du sollst nicht! ist der Appell derer, die das neoliberale Konzept, das darin enthaltene Menschen- und Gesellschaftsbild, für mit warmen Worten reformierbar halten. Vor einigen Wochen forderte der Bundespräsident in theologisch verquaster Manieriertheit die "Zivilisierung der Gier" und einen "aufgeklärten Kapitalismus". In einem durchderegulierten System ist aber mit Anstand nicht zu rechnen. Nun hat kürzlich auch die Arbeitsministerin zu besserem Benehmen aufgerufen und Arbeitgeber wie auch die Gewerkschaften aufgefordert, den allgemeinen Stress an Arbeitsplätzen zu bekämpfen.
Da in den letzten 15 Jahren die Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen um 80 Prozent zugenommen haben, sehe sie nun Handlungsbedarf. Wiewohl sie erklärte, dass Arbeitgeber heute schon dazu verpflichtet seien, Vorbeugung zu betreiben. Wie so eine Vorbeugung in einem Klima aus Leistungs-, Kosten- und Arbeitsplatzdruck aussieht, blieb natürlich offen.
Denn das ist ja die Crux. Da ruft jemand zur Zivilisierung des Stress auf und betreibt munter seit Jahren eine Politik, die Stress verursacht. Hengsbach macht in seinem aktuellen Buch deutlich, wie die Finanzbranche auf die Beschleunigung des Alltages eingewirkt hat und eine Wechselwirkung einging. Beschleunigung meint hier nicht nur zeitlich, sondern auch den inneren Takt eines jeden Menschen, der dem repressiven Klima einer Ökonomie unterworfen wird, in dem er Humankapital, Konsument und Kostenfaktor zu sein hat, in dem er Stress im Beruf, Stress auf dem langen Weg zum Beruf und Stress im Home Office oder beim Einreichen des Antrages auf Aufstockung bei der Behörde erfährt. Einfach mal mit dem Finger schnippen und Entschleunigung und damit Entstressung gerade dort zu verlangen, wo sie als Bestandteil der neoliberalen Ökonomie gar nicht gewollt werden, ist schon ein Meisterstück an moralingetränkter Du sollst nicht!-Mentalität.
Der Stress und die psychische Belastung derjenigen, die keinen Arbeitsplatz haben und finden, ist dabei noch gar nicht erfasst. Sie generieren ja keine Fehltage am Arbeitsplatz, weshalb deren psychische Belastung vermutlich nur als Randnotiz und nutzloser Kostenfaktor eingestuft wird.
Wollte man tatsächlich den Stress aus den Betrieben bannen, so müsste in erster Instanz die Abhängigkeit der Politik von der Wirtschaft und speziell von der Finanzindustrie aufgelöst werden. Sämtliche Deregulierungen am Arbeitsmarkt, die Druck auf Belegschaften ausüben, weil sie Arbeitsplätze unsicher machen, Lohndruck erzeugen und eine Leistungsbereitschaft abverlangen, die auf Dauer nicht durchzuhalten ist, hätten von der Arbeitgeberlastigkeit abzurücken. Man müsste sich einer Ökonomie, die die Bedürfnisse der Menschen befriedigt und nicht Menschenmaterial als ihr Bedürfnis sieht, durch eine Stärkung des Primats der Politik, annähern.
Stattdessen tut die Ministerin eher das Gegenteil. Sie rügt Arbeitslose und spekulierte auch schon darüber, ob Hartz IV nicht zu verschärfen sei und setzt damit auch die Beschäftigten unter Druck. Die immer wieder aufkeimenden Debatten um die weitere Lockerung oder Beseitigung des Kündigungsschutzes kommentiert sie gar nicht. Sie gibt stattdessen warme Empfehlungen, das Handy nach Feierabend auch mal aus zu lassen, um für den Arbeitgeber mal nicht erreichbar zu sein. Eine mögliche gesetzliche Handhabe für Arbeitnehmer, deren Arbeits- und Freizeit aufgrund von Betriebsinteressen zusammengelegt werden, möchte sie aber offensichtlich nicht schaffen. Und zum Mindestlohn, der manche prekäre Existenz entstressen könnte, äußert sie sich gleichfalls nicht. Geringfügige Beschäftigung, Ausbund an Stress aufgrund fehlender sozialer Absicherung und weil Minijobber wegen niedriger Arbeitszeiten vom Betrieb höhere Taktzahlen vorgeschrieben bekommen, wurde unter ihrer Ägide ausgebaut. Kurzum: Die Zusammenhänge einer Beschleunigungswirtschaft und all der daraus erzielten gesellschaftlichen Stressfaktoren, scheinen ihr vermutlich nicht mal bewusst zu sein.
Aber wenn man sonst schon nichts Substanzielles dagegen tut, bleibt doch miminal die Moralia. Irgendwelche Reflexe einer schädlichen Lehre, die in den Köpfen derer spukt, die Entscheidungsgewalt hätten, wenn man dem Grundgesetz Glauben schenken darf. Doch die ergießen sich lieber in lauwarmen Reden und Empfehlungen, sind eben minimal ein bisschen moralisch, tunken die Verkrämerung des Alltagslebens mit Moralinbäuschen auf. Du sollst nicht! oder wahlweise Du sollst! sind die letzten Affekte einer Politik, die nur noch als eine Art Priesterkaste hinter der profanen Macht der Wirtschaft fungiert, die Legitimationslehren entwirft und jeglichen Handlungsspielraum an andere abkommandiert. In einem deregulierten System zur Einsicht aufzufordern ist nichts weiter als die Rolle einer Form von Lebensberatung eingenommen zu haben.
Minimal Moralia ist letztlich der Leitgedanke hinter postdemokratischer Politik. Als moralische Instanz darf sie wirken - gestalterisch ist sie nur, wenn es der Ökonomie dient - eigene Ziele und Absichten hegt sie nicht. Rahmenbedingungen schaffen! war vor Jahren das passende Schlagwort der Stunde dazu. Rahmenbedingungen schaffen und sonst nichts. Als habe Politik keine eigene Motivation zu haben, sondern nur rechte Hand der Wirtschaft zu sein. Die Arbeitsministerin, die laut Pressemeldungen Handlungsbedarf sieht, handelt jedoch gar nicht. Sie versteht ihre Politik nicht als Durchsetzung gesellschaftlicher Interessen und zielt nicht auf die Verbesserung des sozialen Miteinanders ab, sondern gibt sich als unverbindliche Beratungsstelle, verteilt Empfehlungen und macht kontemplativ in Moral, wo aktiv Taten nötig wären.