Mindestlohn

Wollte ich etwas Nettes sagen über die Mindeslohn-Debatte der CDU, ich würde mich wohl darauf besinnen, dass Angela Merkel bei aller offensichtlichen Taktiererei zumindest das richtige Thema getroffen hat. Für gut anderthalb Tage hat diese Regierung - vielstimmig und ergebnislos - über ein Problem gesprochen, das tatsächlich existiert und das in diesen Tagen - zumindest innenpolitisch -  jede To-Do-Liste anführen sollte, die ein Politiker da draußen hat.

Nur zur Erinnerung: Es gibt in diesem Land hunderttausende Menschen, die nach Feierabend noch zum Sozialamt gehen dürfen, weil sie nicht genug verdienen. Obwohl sie 40 Stunden pro Woche arbeiten, können sie sich häufig nicht mal ihre Wohnung leisten, und das gilt gleich doppelt, wenn sie Kinder haben. Wir – die Solidargemeinschaft – bezahlen derzeit das, was ihnen eigentlich zusteht, wir nennen das dann zynisch „Aufstocker“. Und wenn das noch nicht reicht, schreiben wir auf unsere Plakate: Sozial ist, was Arbeit schafft – wir bezahlen die Arbeit, und die Unternehmen erhalten die Wertschöpfung dieser Arbeit zu einem Spottpreis.

Völlig unabhängig davon, welchen Job sie machen, jeder Einzelne von denen würde sicherlich davon träumen, eine „kalte Progression“ zu erleben – also Lohnerhöhungen, die sie in höhere Einkommenssteuerklassen bringen. Ich glaube, jeder von denen würde sogar sehr gerne überhaupt mal Einkommenssteuer zahlen - müsste sich das Monatsgehalt nicht selten auf einen Schlag verdoppeln.

Dennoch vergießen Politiker der Traumkoalition dieser Tage mal wieder eine Menge Krokodilstränen über das fürchterliche Schicksal von Menschen, die den Spitzensteuersatz zahlen müssen und suggerieren mit verblüffender Ernsthaftigkeit, dass Maßnahmen, die nicht mal tatsächlich konsequent gegen die besagte „Kalte Progression“ wirken, der oberste Punkt ihrer Agenda sind und sein müssen.

Vor allem Bundeskonfirmand Rösler tut sich durch ein zunehmend soldatisches Vokabular hervor, dass ihn wohl als Sagengestalt etablieren soll, die den Drachen erlegt; das wäre zumindest eine insofern passende Metapher, als dass es sich hier zu einem großen Teil um ein Hirngespinst handelt. Gleichzeitig ist die Diskussion über den Mindestlohn schon wieder eingeschlafen, bevor sie richtig begonnen hat; bei der entsprechenden Bundestagsdebatte war die Regierungsbank geräumt.

Was mich daran am meisten ärgert, ist allerdings, dass meine eigene Partei das alles möglich gemacht hat. Nicht nur durch die entsprechenden Gesetze, was schon völlig genügt hätte; wir haben dafür gesorgt, dass der Begriff von Arbeit entwertet wird.

Es ist eine rot-grüne Errungenschaft, dass der Wert von Arbeit nicht etwa entsprechend bezahlt wird, sondern dass die Bezahlung den Wert von Arbeit definiert. Die SPD hat keine Debatte ausgelassen, die dabei mitgeholfen hat, zum Beispiel den Terminus der „Geringqualifizierten“ zu etablieren – früher meinten wir damit die Menschen, die Arbeiten erledigen, für die wir uns zu schön sind. Früher hatten wir auch noch ein Mindestmaß an Respekt für jene, die in unserem Dreck wühlen, für die Dienstleister, für die Reinigungskräfte, für die Helfer und Assistenten. Ohne die dieses schöne Land zusammenbrechen würde, immer noch und mehr denn je.

Heute blicken wir auf sie herab und klassifizieren ihren Job als Strafarbeit, die aber zugleich etwas ist, für das sie dankbar sein sollen – dafür, dass sie sie erledigen dürfen. Auch die SPD hat – wie üblich auf dem Pfad der besten Absichten – eine Bildungsdebatte geführt, die aus der guten alten kapitalistischen Halluzination abgeleitet war, dass man sich nur anstrengen muss, um hierzulande was zu werden; entsprechend hat sich jeder, der nichts wird, nur nicht genug angestrengt. Wir ertragen mittlerweile Leute in unserer Partei, die denen, ohne die wir in unserem eigenen Dreck ersticken würden, unterstellt, sie würden dieses Land abschaffen, vor allem dann, wenn sie sich fortpflanzen. Und das ist erfahrungsgemäß nur ein Gipfel, den es in der nächsten Hetzkampagne zu übertreffen gilt.

Wir haben zwar über Chancen geredet, und das heißt, über ein Land, in dem jeder Arzt oder Ingenieur oder Bänker werden kann, der sich Mühe gibt. Wir haben damit im Endeffekt zum Ausdruck gebracht, dass Altenpfleger, dass Reinigungskräfte, dass Verkäufer und Friseure Bürger zweiter Klasse sind, die aber – wie nett von uns! - gerne nochmal zur Schule gehen dürfen. Als die Linkspartei, damals sogar noch als PDS angetreten, schon seit Jahren den Mindestlohn auf die Fahnen geschrieben hatte, erschufen wir gerade planlos den Niedriglohnsektor, der einen Mindestlohn überhaupt erst von einer Option zu einer zwingenden Notwendigkeit heranwachsen ließ.

Die sozialdemokratische Partei Deutschlands, die mal entstand, weil Millionen ihre Arbeit durch die gesellschaftlichen Verhältnisse entwertet sahen, hat in den letzten Jahren eine solide Basis für ein Revival eben dieser gesellschaftlichen Verhältnisse geschaffen. Dass sie damit die feuchtesten Träume der nun amtierenden Regierung erfüllte, vollendet bestenfalls die Pointe, aber es gibt ja auch so schon genug zu lachen.

Noch vor dem Parteitag ist bei der CDU der Monatslohn der Betroffenen von etwa 1200 auf 800 Euro herunterdiskutiert worden , brutto, versteht sich. Obwohl davon nicht mal ein Student leben könnte, wenn er nicht von seinen Eltern unterstützt wird, ist aber selbst diese Unverschämtheit schon wieder vom Tisch. Stattdessen entdeckt unsere Kanzlerin gerade die Freiheit der Tarifparteien in einem Segment, in dem die Abwesenheit irgendwelcher Tarife ja gerade das eigentliche Problem ist. Dabei wird sie natürlich wortreich unterstützt von den ehemals Liberalen, die sich heute – einen Monat nach den ersten Schlagzeilen – daran erinnert haben, dass wir ja ein Mindestarbeitsbedingungengesetz haben.

Dieses Gesetz sagt unter §1, der „Festsetzung von Mindestarbeitsentgelten“, folgendes aus:

(2) Mindestarbeitsentgelte können in einem Wirtschaftszweig festgesetzt werden, wenn in dem Wirtschaftszweig bundesweit die an Tarifverträge gebundenen Arbeitgeber weniger als 50 Prozent der unter den Geltungsbereich dieser Tarifverträge fallenden Arbeitnehmer beschäftigen.

… und es sei, so triumphieren unsere Menschenfreunde heute, noch nicht ein einziges Mal angewendet worden. Die offizielle Haltung meiner Bundesregierung ist damit also: 50 Prozent der Beschäftigten können da draußen ohne Tarif beschäftigt werden; ihre Existenz mit einem Mindestlohn abzusichern, wäre aber eine Gefährdung der Tarifautonomie. Leute wie DerneueVorsitzendederFDP brüsten sich mit so was – auch wenn sie das entsprechende Gesetz andererseits, im Namen der Arbeitgeberverbände, seit gut 60 Jahren bekämpfen, weil es doch recht unerquicklich für ihre Klientel ist, mit entsprechenden Arbeitsverträgen bis hin zur Schaffung von Scheingewerkschaften die Einhaltung dieser 50 Prozent zu gewährleisten.

Dass auf der Basis dieses Gesetzes in den letzten Jahren in 10 Branchen in der Tat Mindestlöhne vereinbart wurden – zuletzt für Zeitarbeiter, die ja jetzt tatsächlich zur Messlatte werden sollen oder zumindest für zwei Tage werden sollten – spielt da auch keine große Rolle mehr, auch nicht, dass die entsprechende Kommission von denen, die außerhalb von Tarifen herum schwimmen, gar nicht angerufen werden kann, weil sie keine entsprechenden Vertreter haben. Es ist eine Blamage für unsere gesamt politische Klasse, und es im Endeffekt auch eine Blamage für unsere Gesellschaft.

Wir sollten uns nichts vormachen: Wir werden für einen Mindestlohn bezahlen, nicht die Arbeitgeber. Wir werden eine Verteuerung von Dienstleistungen erleben; ob wir nun unsere Angehörigen pflegen lassen, unsere Haare schneiden lassen oder in einem Restaurant speisen. Wir werden auch mehr für kommunale Dienstleistungen bezahlen müssen, insbesondere dann, wenn diese privatisiert wurden, denn diese sogenannten freien Unternehmer bekommen ja im Dutzend Zwangsarbeiter von den örtlichen Arbeitsagenturen zugewiesen und natürlich auch bezahlt.

Wir werden auch einen Boom in der Schwarzarbeit haben, was mein entschiedenes Lieblingsargument ist: Wir können Menschen in Deutschland nicht vernünftig bezahlen, weil Arbeitgeber sonst kriminell werden. Was eigentlich bedeutet: Die Löhne in Deutschland sind schon jetzt kriminell niedrig, und eben auch: Deutsche Arbeitgeber haben ein Recht darauf, kriminell niedrige Löhne zu zahlen, ohne sich damit strafbar zu machen.

Mehr müsste ich eigentlich gar nicht hören, um zu wissen, was zu tun ist. Für meine Regierung ist dergleichen aber stattdessen eine Legitimation – das ist nicht zu begreifen, aber gut zu wissen.

Jetzt aber erst mal Wetter.

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