Minderheits-Regierung in NRW

In manchen Medien und mancher Parteizentrale wird in diesen Tagen das Wort von der Unregierbarkeit Nordrhein-Westfalens ausgepackt. Eine Minderheitsregierung von SPD und Grünen wird als Machtpoker auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger verstanden. Dabei ist eine Minderheitsregierung keineswegs so ungewöhnlich, wie es auf den ersten Blick scheint.  Eine einzige Stimme fehlt der neuen rot-grünen Landesregierung in Düsseldorf. Ein paar hundert Stimmen mehr bei der Wahl hätten möglicherweise eine zwar hauchdünne, aber doch regierungsfähige Mehrheit ergeben. Stattdessen wird das Land jetzt von einer Minderheitsregierung geführt. Wochenlang lehnte es Hannelore Kraft, die inzwischen neu gewählte SPD-Ministerpräsidentin, ab, eine Regierung zu bilden, die dann von den Stimmen der Linkspartei abhängig wäre. Vermutlich waren es bundespolitische Überlegungen, die sie schließlich zum Einlenken zwangen: Im Bundesrat, der den umstrittenen Bundesgesetzen wie der Verlängerung der Laufzeit für Atomkraftwerke oder dem Sparpaket zustimmen muss, sind die Regierungen und nicht die Parlamente der Länder vertreten. Wenn die bisherige CDU-FDP-Regierung geschäftsführend im Amt geblieben wäre, hätte die SPD mit den Grünen und den Linken zwar neue Vorhaben auf Landesebene verhindern können, im Bundesrat hätte die Landesregierung aber ohne parlamentarisches Mitspracherecht den Vorlagen der Bundesregierung zustimmen können.

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So wird der rot-grünen Minderheitsregierung in Düsseldorf allgemein keine lange Lebensdauer zugebilligt. Dabei haben einige Medienvertreter durchaus erkannt, dass in dieser politischen Konstellation eine ganz besondere Chance liegt, wenn man sie nur nutzt. Eine Minderheitsregierung ist auf möglicherweise wechselnde parlamentarische Mehrheiten angewiesen. Vorhaben, die sich aus Gründen der Koalitionsräson bei einer Mehrheitsregierung verbieten, weil sie sich nur mit einer Oppositionspartei durchsetzen ließen, können mit einer Minderheitsregierung umgesetzt werden. Natürlich ist das Abstimmungsverhalten im Landtag nicht mehr so berechenbar wie bei klaren Mehrheitsverhältnissen, aber macht das nicht gerade eine funktionierende Demokratie aus? Bedeutet Demokratie nicht geradezu zwangsläufig, dass man nicht schon vor der Abstimmung weiß, wie sie ausgehen wird?

In anderen Ländern, zum Beispiel in Dänemark, sind Minderheitsregierungen an der Tagesordnung, und die Dänen leben gut damit. In Deutschland wird gleich das Gespenst von Weimar heraufbeschworen, obwohl es dort eigentlich kaum Minderheitsregierungen gab. Der Untergang der ersten deutschen Demokratie hatte damit zu tun, dass im Parlament die Antidemokraten die Mehrheit stellten, nicht die Minderheit. Außerdem war mit dem Amt des Reichspräsidenten, der aus eigener Machtvollkommenheit den Reichskanzler ernennen und die Grundrechte einschränken konnte, ein weiteres wichtiges Staatsamt bei einem Antidemokraten gelandet, Paul von Hindenburg nämlich. Bei heutigen Minderheitsregierungen liegt der Fall anders. Es ist das Kleben an der Macht und die Angst vor unabsehbaren wirtschaftlichen Panikreaktionen, die verhindert, dass man der Demokratie durch eine Minderheitsregierung eine Chance gibt.

Wenn in einem Parlament klare Mehrheiten herrschen, und das gilt insbesondere für den Parteienstaat Deutschland, dann ist bereits vor der entscheidenden Abstimmung alles klar. Die Mitglieder der Regierungsfraktionen sind durch den Fraktionszwang oder die Fraktionsdisziplin an den Willen der Regierung gebunden, sonst droht ihnen das Ende ihrer politischen Karriere nach der nächsten Bundestagswahl. Obwohl Abgeordnete nur ihrem Gewissen verpflichtet und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind, wie es das Grundgesetz formuliert, beugen sich fast alle dem Fraktionszwang. Verfügt die Regierung über eine ausreichend starke Mehrheit, dann wird bestimmten Abweichlern wie bei der Wahl des Bundespräsidenten auch schon mal die längere Leine gelassen. Im Regelfall aber kann man die Abstimmungsergebnisse im Bundestag vorhersagen. Darauf gründet sich das Handeln der politischen Parteien. Wenn die Regierung, also das Bundeskabinett, ein Gesetz beschlossen hat, beginnt man faktisch schon mit der Umsetzung, obwohl die parlamentarische Hürde ja noch gar nicht genommen wurde. Das mag effektiv sein, demokratisch ist es nicht. Unberechenbarkeit und schwankende Mehrheiten hassen sogenannte demokratische Politiker am meisten. Daher auch das Zögern fast aller, wenn es um eine Minderheitsregierung geht.

Dabei könnte die rot-grüne Landesregierung einen echten Glückstreffer gelandet haben. Jetzt, wo man so oder so auf Stimmen anderer Parteien angewiesen ist, kann man sich für dieses Projekt mit der Linken, für jenes Projekt mit der FDP und für ein drittes mit der CDU zusammenschließen. “Koalition der Einladung” nannten Spitzenfunktionäre beider Regierungsfraktionen dieses Konstrukt. So könnte im Idealfall ein ausgewogenes Regierungsprogramm entstehen, das dem Land wirklich nützt. Die Notwendigkeit, echte Kompromisse zu schließen, ist ebenfalls ein Vorteil. Bei den im Bund sonst üblichen Reformkompromissen handelt es sich meistens um Augenwischerei, damit niemand sein Gesicht verliert. Bei einer Minderheitsregierung sind inhaltliche Kompromisse nötig.

Dazu bedarf es aber eines gewissen politischen Mutes, und es ist eine politische Kultur vonnöten, die uns in Deutschland Angst macht. Sie sieht das Parlament als tatsächlichen Ort der politischen Diskussion und Willensbildung, und nicht, wie in Deutschland üblich, als formale Abstimmungsmaschine mit feierlichem Zeremoniell. Wie bereits erwähnt hat man in den skandinavischen Ländern bereits gute Erfahrungen mit Minderheitsregierungen gemacht, und in den Niederlanden wird gerade ein anderer Weg versucht. Dort wird eine rot-grün-liberale Regierung gebildet, die sich nur auf Grundsätze und wenige Punkte eines gemeinsamen Programms einigt. Viele weitere Vorhaben werden zu sogenannten “freien Themen” erklärt, die im Parlament mit offenem Abstimmungsausgang behandelt werden, ohne dass die Regierung daran zerbrechen soll. Interessante Ansätze für einen demokratischen Umgang im parlamentarischen Alltag.

In Deutschland wird nur in ganz besonderen Fällen der Fraktionszwang für eine bestimmte Abstimmung aufgehoben. Eine solche Abstimmung nennt man dann eine “Gewissensfrage”. Das Grundgesetz sieht aber jede Abstimmung im Parlament als Gewissensfrage an. Obwohl man daran auch Zweifel anmelden könnte. Beispielsweise gibt es die Möglichkeit des Gesetzgebungsnotstandes. Wenn ein Bundeskanzler die Vertrauensfrage verliert kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates den Gesetzgebungsnotstand beim Bundespräsidenten beantragen. Wenn der Bundespräsident dem zustimmt, kann die Bundesregierung ohne den Bundestag, nur mit der Zustimmung des Bundesrates, Gesetze erlassen. Zur Erinnerung: Im Bundesrat sitzen Landesregierungen, nicht die Vertreter der Landtage. Die Bundesregierung kann also mit den Länderregierungen gemeinsam gesetzgeberische Aufgaben übernehmen. Dies ist nicht nur zutiefst undemokratisch, sondern erinnert mich auch an das hitlersche Ermächtigungsgesetz. Das besagte bekanntlich, dass die Reichsregierung auch ohne Beteiligung des Reichstages Gesetze erlassen konnte. Der bundesdeutsche Gesetzgebungsnotstand ist noch nie angewendet worden, was für die deutsche Demokratie spricht. Der kleine Bruder dieser Regelung kam allerdings schon einige Male zum Einsatz: Der Bundeskanzler kann mit einer politischen Sachentscheidung die Vertrauensfrage verbinden. Wenn man also zum Beispiel über eine Verlängerung des Afghanistaneinsatzes abstimmt und sich herausstellt, dass mehrere Abgeordnete der Koalition gegen den Einsatz sind, dann wird mit der Abstimmung über den Einsatz die Vertrauensfrage verbunden. Die Abgeordneten stehen dann vor der Entscheidung, ihrem Gewissen zu folgen und damit der eigenen Regierung das Vertrauen zu entziehen, was zu Neuwahlen führen kann, oder sich der Fraktions- und Regierungsdisziplin zu beugen und dem Afghanistaneinsatz zuzustimmen. An diesen Möglichkeiten sieht man, wie autoritär die deutsche Demokratie bis auf den heutigen Tag ist. In einem solchen Klima können Minderheitsregierungen kaum auf einen fruchtbaren Boden fallen und als Chance betrachtet werden.

Allerdings kommt im Falle von Nordrhein-Westfalen noch ein Punkt hinzu, den man nicht übersehen kann. Bei vielen Entscheidungen wird die rot-grüne Landesregierung Stimmen der Linksfraktion brauchen, denn von CDU und FDP wird sie sie schon aus machtpolitischen Erwägungen heraus nicht erhalten. Damit machen sich Hannelore Kraft und ihre Regierung allerdings angreifbar. Gerade nach der Bundesversammlung und der ablehnenden Haltung der Linken gegenüber Joachim Gauck wird die aus der PDS und der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit hervorgegangene Partei mit einem antidemokratischen Menschenbild und stalinistischen Visionen verbunden. Die Rufe, dass die Linke auf Jahrzehnte nicht regierungsfähig ist, werden immer lauter. Und die CDU-FDP-Opposition in Nordrhein-Westfalen bläst auch schon in dieses Horn. Hannelore Kraft lasse sich von Stalinisten unterstützen, faktisch sei es eine linke Regierung, die von rot-grün da gebildet worden sei. Das Kalkül der CDU und der FDP ist wohl, dass es zu schnellen Neuwahlen kommt, bei denen man SPD und Grüne als Landesverräter beschimpfen kann. Zumindest aber wird man sie als Unsicherheitsfaktoren in der Krise brandmarken, und die Bevölkerung will eben gerade mehr Sicherheit.

Politische Krisen gibt es immer wieder, Wirtschaftskrisen hören ohnehin nie auf. Folgt man dieser Argumentation, dann wäre niemals der richtige Zeitpunkt für demokratische Experimente. Aber aus der Demokratie, aus dem kreativen Zusammengehen verschiedenster Interessen, kann eine Menge Schwung erwachsen, eine Vielfalt, die keine Angst macht, sondern die das Land nach vorn bringt. In einer Demokratie wird Macht immer nur auf Zeit gewährt. Wenn man erst einmal beginnt, in verschiedenen Lagern für Einzelprojekte um Unterstützung zu werben, kommt man vielleicht irgendwann auch zu mehr Formen direkter Demokratie wie Volksbegehren und Volksentscheid. Eine Minderheitsregierung, die für Vorschläge aus verschiedenen Richtungen offen sein muss, könnte dafür ein guter Anfang sein.


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