Tatsächlich geht ein ordentlicher Wind, als das Taxi die letzten Kurven genommen hat und vor dem Studio Bellavista zum Stehen kommt. Das Meer braust deutlich hörbar, vollführt einen wilden, salzigen Begrüßungstanz. Es ist stockdunkel im Ort, kurz vor Mitternacht, die Tavernen, die ich schemenhaft am Ufer der bewegten schwarzblauen See erkenne, haben alle längst geschlossen. Milatos schläft bereits. Auch Spyros, der Nachbar, der mir Einlass gewährt, wirkt verschlafen. Eine Flasche Wasser bringt er mir noch zur Nacht, dann bin ich plötzlich allein, in einer neuen Welt, die ich in ihrer Dunkelheit noch kaum erkenne.
Es ist schon etwas Besonderes, morgens aufzuwachen, auf den Balkon zu treten und von einem so wohltuenden Bild empfangen zu werden, wie es mir in Milatos tags darauf geschieht. Ich bin in ein Geheimnis eingereist und nun zeigt es sich mir offenherzig in seiner freundlichen, unprätentiösen Schönheit. Dass ich für eine Woche meine erste Kreta-Station in Milatos gefunden habe, war durchaus ein Zufall. Das erste Mal – und endlich! – nach Kreta reisend, hörte ich mich um und vernahm mehr als eine Stimme, die vom hotelburgengesäumten Norden im näheren Umkreis von Heraklion ab- und ganz unbedingt zum Süden der Insel riet, den ich mir fortan viel ursprünglicher, geradezu ungebändigt, aber auch etwas abgelegen vorstellte. (Alles Mutmaßungen, die ich im zweiten Teil meiner Reise, in der ich dann die südlichen Gefilde rund um Mátala in Augenschein nahm, durchaus relativieren sollte.) Entscheidungsgehemmt inmitten der Auswahl an Unterkünften in jenem Süden, von denen viele schon ausgebucht waren, entdeckte ich ganz im Abseits des Internets eine private Kleinanzeige, die meine Aufmerksamkeit plötzlich auf einen Ort namens Milatos lenkte. Auch wenn ich im Vorfeld meiner Reise mehrfach kurz skeptisch wurde, was ich denn da entschieden hatte – in einem etwas missgelaunten Kreta-Bericht las ich beispielsweise, in Milatos sei so gottverlassen gar nichts, aber auch gar nichts los – für mich war diese intuitive Entscheidung genau richtig.
Milatos beschenkt mich mit einer tiefenentspannten Atmosphäre. Nur eine schmale Straße trennt das Studio vom Meer. Vor dem steinigen Strand wiegen Olivenbäume ihre Kronen anfangs heftig und, als im Laufe der Woche der Wind nachlässt, ganz sanft. Ins Dorfleben mit seiner freundlichen Geruhsamkeit finde ich mich bald ein. Die Tavernen, allesamt mit bestem Meerblick, sind nur noch spärlich besetzt. ich werde es nicht schaffen, jede zu besuchen. Man wirbt um mich, wenn ich zur Essenszeit die Straße entlang schlendere, aber wenig aufdringlich. Es kommt vor, dass ich demjenigen ins Lokal folge, der als erster freundlich winkt. Morgen wird es eine andere der kleinen Tavernen sein.
Paralia Milatou oder auch Milatos Beach, zum besseren Verständnis für die internationalen Gäste, heißt der Ortsteil, in dem ich mich befinde, in dem es im Sommer vielleicht etwas trubelig zugeht, die Plätze der Tavernen besser besetzt sind. Aber es gibt nur eine überschaubare Zahl an Unterkünften, so recht kann hier nichts aus dem Ruder laufen. Etwas getrennt vom Dorf am Meer, wo auch heute noch die Fischer im kleinen Hafen ausfahren, liegt der obere, erst recht uralte Teil von Milatos. Über 3000 Jahre alt soll er sein, ein wahrhaft traditionelles, schmuckes kretisches Dörfchen. Ins Hinterland schwingt sich die Straße weiter, kurvenreich bis nach Neapoli, der ehemaligen Kreisstadt. Der Taxifahrer bedeutete mir beim Transfer, dieses Neapoli sei „keine Stadt für Touristen, sondern für Griechen“, wo sie ihre Dinge tun, ihre Schulen und Kindergärten haben, ihre Banken und ihre Post. Ob er Neapoli vor den Touristen bewahren will? Von Neapoli aus kommt man über weitere Kurven und Kehren auf die wunderbare Lassithi-Hochebene, je weiter man die Täler und Höhen durchfährt, verliert die Luft ihre salzige Note und wird kristallklar. Auch in die andere Richtung, dem Meer zugewandt weiter nach Osten locken zahlreiche Ausflüge rund um Agios Nikolaos und noch weiter an herrlichen tiefblauen Buchten entlang.
Die Kapelle vor tiefblauem Meer begrüßt mich nach jedem Ausflug
Längst nicht alles, was man von Milatos aus entdecken kann, schaffe ich in meinen wenigen Tagen. Aber es ist schön, mit dem Mietwagen, der mir nach zwei Tagen gebracht wurde und der an seinem zweiten Tag bei mir gleich streikte, die Landschaften zu erkunden, im eigenen Tempo, vollgesaugt von Licht und Farben und einem großartigen Klima im Frühherbst. Nach kurzer Zeit in Milatos ist alles in mir ganz friedlich geworden. Selbst als sich herausstellt, dass die Batterie meines kleinen Fahrzeugs morbide ist – und der Vermieter dies wohlweislich wusste – als dadurch die Tagespläne mächtig durcheinanderkommen, kann ich das in großer Gelassenheit ertragen. Ich vertraue den Menschen, die mir helfen, wie dem mittlerweile eingetroffenen Hausmanager vom Bellavista, dem freundlichen Mikaelis, genieße die Wolken, den Wind und die griechische Art, (sehr) langsam aber auch sicher, eine Lösung zu finden.
Das Geheimnis von Milatos liegt darin, dass es ein paar Hügel und Kurven hierher zu überwinden gilt, was für die pauschaltouristischen Hotspots wie Stalida, Chersonissos und Malia, die zunächst, von Heraklion kommend, erreicht werden, nicht gilt. Und darin, dass der Ort über keinen klassischen Sandstrand verfügt. Ganz im Westen jedoch, beim Hafen, gibt es ein bisschen Sand und kostenlose Strandliegen, die zur NoNameBar gehören, aber zumindest nun in der Nachsaison von Einheimischen wie Tagesausflüglern für ein wohltuendes Sonnenbad in den Mittagsstunden genutzt werden – ohne, dass es irgend zu kümmern scheint, ob man zum Umsatz der Bar beiträgt. Was sich durchaus lohnt: Das Gyros in Pita dort ist reichhaltig, absolut saftig und lecker und für 3,50 € sehr kostengünstig.
Am anderen Ende der kleinen Bucht von Milatos entdecke ich die Meltemi Taverna, die erst recht eine spezielle Erwähnung verdient hat. Etwas abgelegen liegt sie da und in Gefahr, jetzt in der Nachsaison wie im toten Winkel der Perlenkette der Tavernen an der Straße völlig übersehen zu werden. Ich rechne mir aus, dass man einzig hier am Abend einen Blick auf den Sonnenuntergang hat, der frühherbstlich schon reduziert zu genießen ist, denn die Berge verschlucken die Sonne schnell. Vor allem werde ich in der Taverne Meltemi aber überrascht von hausgemachten gefüllten Weinblättern, angewärmt serviert und so überaus köstlich, wie ich noch nie welche aß. Erst recht von den zusätzlichen gefüllten Zucchiniblüten, die auf der Karte gar nicht annonciert waren, im Geschmack noch feiner. Von frischem Fisch und hausgemachten Süßigkeiten zum Dessert. Von einer freundlichen Wirtin, die den Raki im Fläschchen bringt und mit mir anstößt. Und von einem weiten Blick auf das Meer, das türkis und nach dem Ausbleiben des Windes der ersten Tage fast faul und lasziv daliegt, in Restsonne den Abend erwartend.
Einen Gruß möchte ich ihr, der Juniorwirtin der Taverna (die köstlichen Gerichte werden wohl hauptsächlich von der Mama produziert) am liebsten auf diesem Weg schicken, sie wird ihn wohl nicht erhalten. Eigentlich habe ich ihr angekündigt noch einmal vorbei zu kommen. An meinem letzten Abend indes ist mir jede intensive Begegnung und Aktivität zu viel. Da sitze ich noch einmal auf dem Balkon, höre und spüre und liebe das Meer. Trinke den selbstgekelterten roten Wein der Leute von Milatos, der leicht und fruchtig und überaus günstig in Plastikflaschen verkauft wird. Ganz egal, was mich nun anderswo auf der Insel erwarten wird, ich werde Milatos vermissen, das weiß ich. Als wäre dieser kleine, uralte, bescheidene Ort nun vielleicht für immer mein Inbegriff von Kreta, dessen Bild ich mir auch Zuhause noch zurückrufen kann als tröstliche Erinnerung. Bisher funktioniert das noch.
Milatos erreicht man nach ca. einer dreiviertel Stunde vom Flughafen in Heraklion aus. Es liegt ca. 20 Kilometer westlich von Agios Nikolaos und eignet sich bestens als Standort für Ausflüge in Kretas Osten. (Mehr darüber bald.) Ich war Ende September hier und genoss ein herrlich wohltemperiertes Klima.
Das Studio in der Villa Bellavista in Milatos war mir eine wunderbare Heimstatt. Der fast quadratische Raum schien mir eine gute Energie auszustrahlen, der große Deckenventilator beschützte meinen Schlaf und wirkt fast kubanisch (oder wie ich mir Kuba vorstelle). Es war mir der ideale Ort für das Glück der Alleinreisenden, frei und unbeschwert von allem, aber ganz automatisch geborgen in der Welt von Milatos.
Gegenwärtig wird von den Eigentümern des Bellavista am Konzept für die Zukunft gebastelt, die Unterkunft erscheint gerade wenig auf einschlägigen Portalen. Eventuell kann man den Aufenthalt hier ab 2017 in den Hauptreisemonaten über einen Reiseveranstalter buchen. Wer mir eine Nachricht schickt, kann aber vielleicht auch außerhalb in einen Kontakt zum Vermieter kommen. Der ideale Ort, um loszulassen und anzukommen … auf Kreta.
Epilog
Zuhause finde ich antiquarisch ein kleines Büchlein: Die Leute von Milatos von Marianne Wick. Ich will es zunächst kaum glauben, dass es in diesen „Erzählungen aus dem griechischen Alltag“ tatsächlich um „mein“ Milatos geht. Aber so ist es. Die Autorin, 1934 geboren, Tänzerin, Choreographin und Lyrikerin, reiste wie ich allein und blieb wohl wochenlang in Milatos. Das Bändchen ist von 1992, damals gab es anscheinend gerade zwei Tavernen in Milatos, heute sind es wohl neun. Und dennoch scheint sich nicht alles geändert zu haben. Das Büchlein hätte ein klein wenig Lektorat verdient und mein Exemplar kam mit teilweise falsch gebundener Seitenfolge bei mir an, sodass ich im Mittelteil rückwärtslesen musste. Aber es ist wunderbar poetisch geschrieben … es passiert nicht viel in Milatos und doch so vieles, was der Autorin von Bedeutung ist. Ich wüsste gerne, ob die Autorin noch lebt, kann es aber nirgend ermitteln…