Michelangelo macht’s

Von Florianprokop

An Schlaf war nicht zu denken. Unruhig wälzte ich mich in meiner neuen "Nur die Liebe zählt"- Bettwäsche hin und her. Natürlich- ich schlief schon besser als früher. Allein schlafen war eine Wohltat. Meine Brüder hemmten mich in meinem Sein. Ich musste sie verlassen. Ich bin Michelangelo! Der künstlerische Turtle! Das würden diese Trottel nie verstehen. Genau so wenig wie meinen Vegetarismus. Nun aber lag ich in meinem Bett und konnte nicht schlafen.

"S sssssssst. Z. Z. Z. Ft. WW", machte es und plötzlich war da wiedermal die kleine Nervensäge in meinem Zimmer. Verzeihung, der kleine Prinz. "Was willst du?", fragte ich patzig. Er räusperte sich, klopfte sich einige Krümel von seinem Pullover und fing an: "Man sieht nur mit dem Herzen..." - Oh nein. Immer die gleiche Leier. "Stop!", schrie ich ihn ein wenig zu laut an. "Ich kann es nicht mehr hören! Sag mir, was du willst und verschwinde!" Der kleine Prinz war völlig ausser Atem. Er hatte seinen Schal ein wenig zu fest um seinen dünnen Hals gewickelt und bekam so wahrscheinlich schlecht Luft. Ich überlegte, ob das Woll-Imitat auf seiner Haut juckte und fühlte mich ein wenig besser in meiner ägyptischen Baumwolle.

"...das Wesentliche ist für die Menschen..."- "UNSICHTBAR! JA DOCH", rief ich. Ich gab dem kleinen Prinzen eine freundschaftliche Kopfnuss. Manchmal konnte ich doch ein Grobian sein wie Raffaelo.

"Das Legomännchen wurde entführt", platzte es endlich aus dem kleinen Prinz heraus. "Nur du kannst es retten! Wenn du kämpfst, gegen was auch immer es sei, mußt du dich selber vernichten, denn ein Teil davon steckt in dir selbst, mag er auch noch so gering sein."

I ch legte meinen Zeigefinger auf meinen Daumen, so, dass daraus ein Kreis entstand. Dann lies ich den Zeigefinger nach aussen wegschnippsen, und traf dabei absichtlich den kleinen Prinz. Der flog in hohem Bogen nach draussen. Sein dünner Plastikschal wedelte hinter ihm her wie ein Kometenschweif. Ich dreht mich um. Dieses Gelaber! Da hatte doch keiner Bock drauf. Ich war so sauer, dass ich mir erstmal einen Kamillentee kochen musste. Schlaf ging ja sowieso nicht mehr. Das Lego Männchen war also entführt worden. Schön war das natürlich nicht. Ich dachte an Leonardo. Immer beschimpfte er mich, ich solle lieber Biedermeier heissen, so ein Stubenhocker, wie ich sei. Nichts würde ich der Welt zurück geben. Hatte er Recht?

Dieser Miniaturadelige hatte es geschafft. Um mich vor weiterem Nachdenken zu drücken, versuchte ich, ein Bild zu malen. Ich ging dabei wie immer sehr assoziativ vor und dachte unbestimmt an ein Interview mit Marina Abramovic, das ich letztens in der Vanity Fair las. Nach einer Weile bemerkte ich: Meine Finger, die ich tun lassen wollte, was sie wollten, malten ein Lego- Männchen!

Mein Unterbewusstsein hatte Recht. Ich war ein Turtle! Neben der Kunst und dem Euro musste ich auch Lego Männchen retten- das war mir einfach im Panzer. Ich überlegte noch schnell, welche Regenjacke wohl passend wäre, fand aber das größte ästhetische Vergnügen darin, keine anzuziehen und ging dann dynamischen Schrittes nach draussen. Wohin nun? Wo sollte ich den Plastik-Typen finden? Wer hat ihn überhaupt entführt? Ich war ohne jede Spur. Ziellos schlenderte ich herum, als mir plötzlich etwas auf die Schulter tippte.

E in freundlich aussehender Hund stand hinter mir. "Hallo", knurrte er, "alles fit?" Er war mir sofort sympathisch. Warum sollte ich nicht mein Glück versuchen? Ich erklärte ihm die Situation- ich wollte das Lego Männchen retten, wusste aber nicht, wo es sich befand. "Steig auf", sagte der Hund, "ich bring dich in die Nähe des Schlosses. Der Ritter hat den kleinen Theo weggesperrt. Ich kann dich bis zur tötenden Tulpe bringen. Aber Vorsicht, um an ihr vorbei zu kommen, musst du schnell sein!" "Wow! Danke!", murmelte ich etwas unwirsch. Dieser Hund war durch und durch lieb. Wenn er nur nicht so viele Haare verlieren würde! Beim Aufsteigen konnte ich mich nirgends richtig festhalten aber nach einigem hin und her ging es dann doch, und dieser aufgeweckte Typ flog mich durch die Nacht zu einer Art Tor, setzte mich ab, verabschiedete sich mit einem feuchten Zungenschlecker und sprang dann instinktiv einem zufällig vorbei fliegendem Knochen hinterher. Weg war er, bevor ich mich bedanken konnte.

Z wei Lichter strahlten mich an. Eine Kerze und eine Lampe. Ich konnte nichts sehen. Mir war ein bisschen übel. Ich dachte an Hermann Hesse, und das jedem Anfang ein Zauber innewohnt. Ich hatte Ehrfurcht vor dem was kommt, wollte aber nicht umkehren. Etwas Abenteuer sollte mir gut tun. Ich sah die tötende Tulpe, und machte mich auf den Weg zu ihr.

M ein Weg führte mich ins Badezimmer. Ich kletterte behände über ein Handtuch auf dem Boden, am glitschigen Toilettenrohr hinauf, an einem gelben See im Waschbecken vorbei auf die Ablagekante am Spiegel. Dort sah ich ihn: Den Ritter auf seinem Pferd. Er lachte böse. Hinter ihm, eingeschlossen in einem Zahnputzglas, Theo. Man war das aufregend! Lange fühlte ich mich nicht so lebendig wie jetzt. Menschen retten! Das war doch die wahre Kunst. Unbemerkt schlich ich mich an diesen grausamen, scheinbar hygienischen Ort und bemerkte eine zweite Geisel! Theodora wurde offensichtlich gezwungen, des Ritters Leibeigene zu sein. Wie unerträglich naheliegend dieser Ritter war. Ich wollte ihn schon von seinem hohen Ross ziehen. Als ich mir gerade meine weiteren Schritte überlegte, erblickte er mich. "Duuuuu! Niiiemaaaaalllls!", polterte er laut, schnappte mich am Turtle-Schlafittchen und stiess mich hinab ins Waschbecken, wo ich ohnmächtig zusammenbrach.

M ein Schädel dröhnte, als ich langsam erwachte. Ein süßlich, brennender Geschmack war auf meiner Zunge. Ich ekelte mich: Das war Eierlikör! Schliesslich drehte ich mich auf den Rücken, was für einen Turtle wirklich keine leichte Aufgabe ist, aber ich wuchs in der Anspannung wirklich über mich hinaus. Als ich gerade nach oben blickte, sah ich, wie des Ritters Schwert in beachtlichem Bogen auf mich zusauste. Ich duckte mich weg und es gelang mir, aufzustehen. Da sauste das Schwert ein nächstes Mal auf mich zu. Der Ritter gurgelte vor Todeslust. Sein Pferd ächzte unter seiner Last. Ich wich erneut aus und als ich das Pferd ansah, gab es mir einen flüchtigen, mitleidigen Blick.

I ch sprang an seine Beine, zog es nach oben und durch die Aufwärtsbewegung fiel der Ritter herunter. Damit hatte er nicht gerechnet. Ausgeknockt lag er in seinem eigenen Eierlikör-See. An der Stelle seines Kopfes wurde das gelbe Wasser ein wenig rot. Ich hatte es geschafft! Ich war wahnsinnig stolz, und nahm mir vor, später ein Gedicht über diesen Moment zu verfassen. Das Pferd sah mir zutraulich in die Augen und wieherte schüchtern.

"N agut. Du darfst mitkommen, ich werde mich um dich kümmern", sagte ich ihm. Wir ritten hoch zu Theo und Theodora, die mir sofort in die Arme fielen und mich eine Sekunde zu lang umarmten. "Neinnein, sagte ich, das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite. Ich habe ein Pferd gewonnen und eine Menge Inspiration!" Da kullerten dicke Krokodilstränen über des Pferdes Wangen. "Ich bitte dich, Michelangelo, großer Künstler und einzig wahrer Turtle! Lass mich frei! Ich will meinen Weggefährten, den Hund suchen und fortan wieder mit ihm durch die Lande ziehen!" "Du bist von nun an ein freies, kapitalistisches Pferd! Grüß mir den Hund! Ich bin ihm zu Dank verpflichtet!", verkündete ich ihm. Das Pferd freute sich und stieß ein lautes Wiehern aus. Es verabschiedete sich und galoppierte munter und mit den klebrigen Eierlikörhufen klappernd in die Richtung, in die es wollte.

Z usammen mit meinen neuen Freunden machte ich mich auf den Heimweg. Sie plapperten ununterbrochen und wieder einmal wurde mir klar, dass ich ein Einzelgänger war. Dennoch verlief der Rückweg schnell und kurzweilig. Wir redeten über die Zauberflöte und warum heutzutage niemand mehr in die Oper geht. Theo knickte beim Laufen um, und ich musste ihn ein Stück tragen. Kein Problem. Beide versprachen mir, zukünftig auf das Essen von Fleisch zu verzichten und ich war froh und stolz, zwei nette Bekanntschaften gemacht zu haben.

W ar das ein Scherz? Die beiden zeigten mir ihr Haus. Es war das Geburtshaus des Barock Komponisten Johann Sebastian Bach! Ich war völlig aus dem Häuschen. "Wir wussten, dass dir das gefallen würde", säuselte Theodora mir ins Ohr, "du bist jederzeit auf einen Lindenblütentee eingeladen und kannst dir alles ganz genau ansehen." Damit traf sie genau ins Schwarze. Ehrwürdige Häuser von ehrwürdigen Personen anschauen war genau mein Ding. Ich setzte beide an der Schwelle ab, gab Theo noch ein Rezept für eine Salbe, mit der die Schmerzen bald vergehen sollten mit auf den Weg und verabschiedete mich. Dann ging auch ich nach Hause.

H errlich. Wieder zuhause. Ich machte die Tür auf, roch den vertrauten Geruch, putzte kurz meinen Panzer vom gröbsten Dreck ab, entdeckte noch ein paar Haare des Hundes und ließ mich dann auf mein Sofa plumpsen, und streamte zum Einschlafen Lars von Triers "Melancholia". Dann wurde es Tag.