von Heide Decurtins
Lena hatte die Hände zum Gebet gefaltet und betrachtete ihren kleinen Weihnachtsbaum.
Ihre Augen waren feucht, und sie dachte daran wie es früher war. Im alten Radio auf der Kommode ertönte leise, “Stille Nacht, heilige Nacht”. Lena dachte an ihren verstorbenen Mann Albert, an Anna ihre beste Freundin und an Toni, ihren Sohn, der in jungen Jahren einem schlimmen Herzleiden erlag.
All ihre Lieben wurden von Gott vor ihr zu sich gerufen.
Es machte sie traurig und sie war sehr alleine, so wie an diesem heiligen Abend. Sie setzte sich, senkte den Kopf, und wehrte sich nicht länger gegen ihre Tränen. Manchmal fragte sie sich, wann sie denn auch endlich gehen dürfe, aber der liebe Gott wird schon wissen was recht ist.
Ihre Augenlider waren schwer, die Wangen feucht und ihre alten Hände hielten verkrampft das Taschentuch fest, als es an der Tür klopfte.
Sie erhob sich und ging mit den Bewegungen eines alten, gebrochenen Menschen an die Tür, und öffnete sie.
Ein Junge stand da. Schmächtig klein war er, mit blond gelockten Haaren und wunderschönen Augen in einem zierlichen Gesicht. “Ja”, sagte Lena und wischte sich die Tränen aus den Augen.
“Ich bin Michael”, erwiderte der Junge. “Michael?”, fragte Lena.”Ja, Michael 154″, lächelte der Junge. “154, was bedeutet das?”, wunderte sich Lena.
“Ich bin Michael 154, weil ich als der 154 Engel mit dem Namen Michael, in diesem Jahre, das Licht des Himmels erblickte”, antwortete Michael vergnügt. Lena sah in fest an. “Was kann ich für dich tun Michael?” “Sie haben gesagt, ich soll dich abholen kommen, Lena.”
“Wer hat das gesagt?” “Nun, Albert, Anna, Toni und all die anderen.” “Und wie soll das gehen?”, fragte Lena ungläubig.
“Es ist ganz einfach”, sagte Michael. “Gib mir deine Hand und schliesse deine Augen, Lena.”Lena glaubte nicht so recht, was hier geschah, aber sie tat wie ihr geheissen. Sie fühlte sich ganz leicht, und es war ihr wohlig warm. Michaels Hand hielt sie ganz fest. “Mach deine Augen wieder auf Lena”, sagte Michael.
Lena öffnete ihre Augen und sah in die Runde. Sie meinte zu träumen. Sie war in einem festlich geschmückten Saal, voll von Menschen an reichlich gedeckten Tischen, und einem Christbaum, so einen schönen hatte sie noch nie gesehen. Und da! Das gab’s doch nicht! Da waren ihr geliebter Albert, Anna, Toni und viele Gesichter die sie kannte, alle winkten ihr zu.
Sie liess Michaels Hand los und ging zu den Menschen, die ihr alles im Leben bedeuteten.
Es wurde das schönste Weihnachtsfest für Lena. Sie weinte, aber nicht aus Gram, sondern vor hellstem Glück. In später Stunde ging Lena zu Michael zurück und sagte traurig:
“Michael, ich danke dir tief aus meinem Innern, du hast meinem Herzen eine Zeit der höchsten Glückseligkeit geschenkt, aber nun ist es spät, und du wirst mich wohl wieder nach Hause zurück bringen.”
Fotos: © Dagmar Hiller
Michael sah sie mit seinen schönen, guten Augen an und sagte: “Nein Lena, dein zu Hause ist jetzt hier. Ich habe dich da unten abgeholt, weil deine Zeit auf der Erde abgelaufen ist. Du bist jetzt für immer bei uns hier im Himmel und wirst es auch bleiben.”
Lena brachte kein Wort mehr hervor. Sie nahm Michael an die Hand, küsste ihn auf dieWange, und sie gingen zurück zu all den anderen Engeln.
nach Gernot Jennenwein