Mia's story


Heute geht es mal nicht um Schminke. Es ist eine Geschichte, beinahe eine halbe Lebensgeschichte.

Mein Freund sagt, die Geschichte sei nicht sympathisch. Keine Figur aus dieser Geschichte gefällt ihm. Ich sage ihm, ich ändere nichts. Das wäre doch eine Lüge zu beschönigen, wenn es eben so gewesen ist. Im Grunde ist es nur mein Protokoll, meine Sicht der Dinge. 

Es geht um das kreative Ambrosia so mancher Autoren und Poetry Slammer, geradezu nervig sind oft die vielen Geschichten der Fahrten in ICEs ubd Regionalverkehr. Es reichen doch schon die von Marc-Uwe Kling und Horst Evers, mit denen ist fast alles über unsere postmoderne Gesellschaft gesagt.

Durch Lauschen erfährt man die kuriosesten Geschichten. Das kann schon praktisch sein. Aber ob das Gesagte und Gehörte auch immer der Wahrheit entspricht? So wie der Mensch in einem Göttinger Theater, der kürzlich meinte, er hätte ohne Vorwissen beim Manager von Zaz couchgesurft und durfte deswegen zu exklusiven Partys, natürlich vor ihrem Durchbruch in Deutschland.

Andererseits habe ich auch schon verrückte Dinge erlebt, habe im Alter von 17 Jahren nach dem Ärzte statt Böller Konzert mit Sid, einer ehemaligen Kumpelin meines Exfreundes, die inzwischen jegliche Freundschaft zu uns leugnet und einem Marius aus Walsrode (er meint, er wäre gut zu Vögeln, er arbeitete dort) eine Nacht auf dem Kölner Hauptbahnhof verbracht, weil wir keinen Hotelplatz mehr bekommen hatten. Oder die verrückten Storys der Prager Klassenfahrt 2007. Das Ärztekonzert mit den Cuxhavener Schnapsnasen im Jahre 2008. Unser Couchsurfingtrip in Amsterdam und der verrückte Tag im Van Gogh Museum.

Viele Geschichten sind spannend. Sie müssen nur erzählt werden.

Es fing also so an. Ich stieg in den Zug und war supermüde. Eigentlich wäre heute Derniere im Theater im OP, wäre da nicht die Zusatzvorstellung morgen. So fahre ich also gen Süden durch gepuderzuckerte Landschaften. Der Winter naht nicht nur, er ist vollkommen im hohen Norden angekommen. Bevor es ins Theater geht, werde ich mich wohl noch irgendwo schminken müssen. Und wenn ich in Hamburg bin, brauch ich noch Makeupentferner und eine Maske und Handcreme. Dieses Schneegestöber ist schon schön anzusehen, aber mit der Kälte kommt die trockene Haut und die medizinischen Werbespots im Vorabendprogramm der öffentlich-rechtlichen Funkanstalten häufen sich. Linola, Voltaren, Umkubulabuadingsda.

Im Grunde bin ich selber Schuld, dass ich so abgeratzt aussehe ... in einem Monat ziehe ich um und muss Platz schaffen, also habe ich entmistet. Und gegen Mitternacht überkam mich eine Putzattacke. 2 Tüten Altkleider, drei Tüten Scheiß aus alten Zeiten, Kram von einer gescheiterten Beziehung, ein Karton, den ich vor etlichen Jahren in meinem Schrank vergraben habe, Präsente und Fotos, alles verschlungen vom Mülleimer oder Hamburger Kachelofen. Nur die Quittung über 133,42 Euro, die wohl fälschlicherweise bei meinen Unterlagen befand, behalte ich als Andenken an die gemeinsame Zeit des Nebeneinanderherlebens. Diese Quittung ist das Sinnbild unserer Beziehung. Er hat natürlich den letzten Cent für mich ausgegeben. Wisst ihr, ich esse DVDs. Und keinen der Filme auf der Quittung habe ich je gesehen, keine CD je gehört. Er hat immer sein Ding durchgezogen. Das darf er, soll er, wenn es ihn glücklich macht, ist es schön und umso schöner, dass er wohl irgendwann in dieser Zeit begriffen hatte, dass ich ein Leben führen möchte, dass eben nicht nur aus DVDs, Computer und ach so toller Musik besteht. Ein Leben draußen, natürlich, eine Welt voller Lästerziegen und Schlangengruben an jeder Ecke. Aber ich war lange genug im Turm eingesperrt. Es war schon viel früher Zeit gewesen, raus an die frische Luft zu gehen. Und warum nicht eine Quittung als Erinnerung an meine Rapunzelzeit behalten? Jeder ist anders gestört, andere Eigenarten kann ich akzeptieren. Aber mitmachen muss ich nicht. Es ist eine Mahnung an mich, dass Freiräume schön und gut sind, aber es einfach nicht klappen kann, wenn einer sich komplett isoliert. Und ich meinem Partner erst recht nicht helfe, wenn ich mich um seine Aufgaben kümmere und er erst recht nicht mehr alles in der Welt da draußen hinterhertrage.

Manche Menschen sind sehr von sich selbst überzeugt, wenn sie reden. Manchmal so sehr, dass sie die Gabe besitzen, andere auch davon zu überzeugen und diese Erkenntnis tief in deren Bewusstsein zu verankern. Das kann Fluch und Segen sein. 

In diesem Fall war es eine große Schwester mit 8jährigen Mädchen. Maja hieß sie und immer wieder wies sie die Kleine an, sie nicht Mama zu nennen. Mutter ist schon vor längerer Zeit gestorben und Maja, eine hochgewachsenes Frau mit aschfahler Haut und wild fallenden, stumpf blondierten Haaren, die mindestens von der Erscheinung her wie 30 wirkte, mit dem orangebraunen Puder und den schwarz umrandeten Augen, hatte das Sorgerecht. Sagte sie zumindest. Als ich das Abteil betrat, dröhnte schon das erste "Nenn mich nicht Mama!" entgegen. Aber die darauffolgende Szenerie, die ich schließlich erblicke, wirkte im Kontrast dazu ganz friedlich und harmonisch. Mia rechnete unbeirrt, als seien die Aufgaben Mandalas und Maja erscheinte rastlos, kommentierte jedes noch so kleinste Geschehen. 88 soll heil Hitler heißen, sagt Maja aus heiterem Himmel. Mach deine Hausaufgaben, du Öddelarsch, du Mistgör. Mia reagiert nicht. "Ieeh. Die Schaffnerin hat kurze Haare, einen Jungenhaarschnitt. Wie behindert." Mia fragt nach etwas Kleingeld für den Getränkeautomaten. Maja zuckt mit den Schultern, sie haben halt nur energy zu trinken mit, davon könne sie trinken. "Du verwöhnte Göre. Ein Kind in Afrika würde sich freuen, wenn es so ein Getränk hätte. Wenn du meinen Redbull nicht willst, dann geh zum Wasserhahn und trink da."

Ohne das Mia danach gefragt hätte, führte Maja ihre Erzählungen fort und erkundigte sich, ob sie in der zweiten Klasse schon Hitler kennen würde. So berichtete sie ausführlich, wie in einer Phönixdokumentation und mit reichlich bildlichen Beschreibungen, wie Hitler Juden und Türken und dumme Parteien vergast hat und erklärt jedes noch so kleine Detail. Die Waggons, die Umkleiden, die Duschen, das Gas, dass sie nur noch Ausschwitz durch den Schornstein verlassen konnten. Dann klingt ihr glockenhelles Lachen durch das das gesamte Abteil. Sie meint, dass Mama sich im Grabe umdrehen würde, wenn die wüsste, weil sie Mia so schlimme Dinge erzählt. "Aber du kennst doch Hitler, Mia, du bist doch nicht dumm. Und besser ich erkläre dir die Welt als die asozialen Lehrer.
Mama ist doch selbst schuld, wenn sie mir das Balg überlassen hat. Sie hätte ja nicht sterben müssen."

"Mama ...." Mia schaut wehmütig in die Ferne, aber da keift Maja schon wieder rum, weil die Kleine sie Mama nennt. Mit angstgeweiteten Augen hebt Mia den Blick zu ihrer Schwester an, wie ein Feldhase, der Gefahr wittert.

Dann plötzlich beschwichtigt sie, dass das alles Spaß sei und sie auch später babysitten darf. Warum Babysitten? Noch mehr kleine Geschwister, die daheim geblieben sind?

Ich empfinde das, was vielleicht schon jetzt jeder von euch spürt. Die Kleine tut mir total leid. Ein süßes Mädchen, sieht aus wie eine Freundin aus der Spatzenchorzeit, goldenes arschlanges Haar, glatt und glänzend, große, kristallblaue Kulleraugen, das Blühende Leben in zu großen Sachen von ihrer Schwester/Adoptivmutter oder gar von der Wohlfahrt. Bildschön und in sich ruhend am Kopfrechnen. Jeder würde sagen: Was für ein artiges, wohlerzogendes Kind. Still und anständig, ganz in ihre Aufgaben vertieft.

Maja führt einen Monolog über fette Menschen aus und wie eklig die sind, während sie beharrlich an ihrem Energy Drink nippt. Wenn man fett ist und merkt, dass man fett ist, dann soll man doch bitte zum Arzt gehen, proklamiert sie. Spätestens, wenn man wie die Sindy Probleme mit dem Scheißen hat. Dünnschisssindy könnte bald das Problem haben, dass sie bleibende Schäden hat, wenn sie nicht zum Arzt geht. Aber sie will ja nicht. Ist ja genauso wie beim Rauchen, es sei scheiße und teuer und trotzdem machen es alle. Und so ist es mit Dünnschisss. Und der Ernährung. 2 Liter Cola jeden Abend, fettiges Essen und dann 2 Stunden am nächsten Morgen auf den Klo. Fette Menschen durch falsche Erziehung. Natürlich, jeder verwertet anders, aber dicke Menschen sollten dann doch bitte nur Gemüse bekommen. Fast Food ist für dünne Menschen da. Und solche Fettbrüste mag doch keiner 75 D oder F. Gab es überhaupt F? Sie wolle nie so dicke Dinger haben.

Mia solle nie mit dem Rauchen anfangen, predigt Maja. Sie schaut auf vom Matheheft und fragt, warum Maja dann rauche. Die erwidert, dass sie doch gar nicht sooooo viel rauche und gesundheitlich noch nichts merke. Sie rauche ja nicht 2 Schachteln am Tag, dann würde sie lieber stopfen. Schließlich ist das sonst kaum bezahlbar. Und irgendwann würde sie ohnehin aufhören, wenn ihr Lungenvolumen um 30 oder 40 Prozent verringert ist. Dann spart sie 300 Euro im Monat, ein wahrer Geldregen. Und Menschen, die ihr Leben lang rauchen, sind so faltig und gelb und müssen ins Solarium, damit überhaupt noch was zu retten ist. Voll ekelig. Nikotinbrathennen. Und wenn sie feiern geht und dann doch mal eine Schachtel am raucht, dass ist ja nur am Wochenende. Wenn man betrunken ist, dann kann man auch so viel rauchen. Aber so viel Geld habe sie ja nicht. Wer braucht schon essen, wenn man Zigaretten hat?
"Bist du deshalb so schön schlank?" "Ja, Mia. Ich weiß nicht, ich habe ja keine anderen teuren Hobbies. Deswegen kann ich mir rauchen leisten."

Mode sei albern. Im Grunde genauso wie Kunst. Geisteswissenschaften sind ohnehin Unsinn, unwichtig. Mia soll was Vernünftiges machen, Jura oder BWL. Ihr gemeinsamer großer Bruder Martin sei halt ein Spinner und einmal haben sie sich richtig gestritten, weil das, was er da studiert, komplett sinnlos sei. Tja, muss hart für ihn sein, aber er macht halt Scheiß. Fleischer und Bäcker, das braucht die Welt. Aber wo auf der Welt ist schon Bedarf an einem Künstler und Philosophen? Kein Mensch braucht Kriggeleien und Klugscheißerei. Das ist nur Verschwendung von Zeit, Geld, Ressourcen.

Und man braucht nicht 20 verschiedene Hosen. Und ist das nicht albern darüber nachzudenken, wie man aussieht? Es passt doch und warum dann irgendwas kombinieren müssen? Hauptsache nicht frieren und krank werden.

Der Zug sei so scheiße langsam. Und was ist eigentlich der Unterschied zwischen Metronom, IC, ICE? Der Metronom fährt glaub ich andere Strecken, anwortet Mia in ruhigen, sachlichen Tonfall. Die große Schwester geht darauf nicht ein. "Warum muss ich ein Erwachsenenticket zahlen? Ich bin gar nicht erwachsen, erst in drei Wochen. Und warum bin ich erwachsen, nur weil ich dann 18 Jahre alt bin?", jammert sie, nur um eine Sekunde später die dicken Schneeflocken zu bewundern. "Mia, guck mal, Mia, guck mal!", quengelt Maja. Aber Mia lässt sich nicht provozieren. Eigentlich wollten sie mit dem Fahrrad fahren, aber es war zu schneeig, zu weißig.
Ich mach jetzt ein Foto, kündigt Maja an. Stellst du das auf Facebook?
Nein, auf Instagram.
Wie heißt du denn auf Facebook, Maja.
So wie auf YouTube.

Naja. So 'ne Mutti will ich nicht werden. Notiere ich innerlich und nehme mir vor, in den sozialen Netzwerken kürzer zu treten, sobald es soweit ist. Meine Mutter ruft an. Wie immer hab ich natürlich etwas Essenzielles vergessen. Heute ist es einer meiner gefühlten 20 Mikrofaserwaschlappen, den ich zum umweltfreundlichen Abschminken nutze. Ich wollte mir ja eh was in Harburg holen, hab da ja 30 Minuten oder sogar 35 Aufenthalt. Mal gucken, ob ich heute überhaupt im Theater alt werde ... bin eigentlich ziemlich müde.

Schon halb in einem wohligen Mittagsschläfchen versunken schrecke ich durch tosenden Lärm wieder auf. Meine Güte, jetzt schmeißt die große Schwester die Sachen, nein, sie schmeißt nicht, sie fegt alles vom Tisch und sagt "Mia, du F..tze, ich hab dir schon tausend Mal gesagt, du sollst nicht so klug rumscheißen, ey." Sie macht freiwillig Matheaufgaben. Voll der Streber. Voll der Lauch.

Die Schaffnerin mit dem grottenhässlichen Jungenschnitt meinte eben sehr mitfühlend: "Und das zum Wochenende". Aber dann meint Maja Mathe sei besser, von Handy wird sie schließlich dumm (Ist das eine Anspielung auf mich, weil ich tippe? Ich protokollier nur und hab immer in der Schule sehr streberhaft mitprotokolliert. Ich war so eine Pferdeschwanz-Annika in der ersten Reihe, bri der alle ab der Schulzeit in Cuxhaven ihre Hausaufgaben abgeschrieben haben.) Und dass Mia voll assi sei, weil sie nie ans Handy geht und nicht bei Facebook sein will.

Ist doch toll wenn eine Schülerin gern Matheaufgaben macht. Der Traum eines jeden Lehrers.

Maja ist schwanger. Man sieht es ihr nicht an. Das Mädchen soll Melody Chantal heißen, weil Mia auch einen Doppelnamen hat. Uwe, ihr Freund wollte Elisabeth. Aber das ist doch voll der omamäßige Name. Falls es doch ein Sohn wird will sie ihn Lucifer und nach Opa benennen. Mia blinzelt. Heißt nicht die eine Katze aus Cinderella Lucifer? Das ist ein böser Nase, antwortete Maja. Weißt du, wer Lucifer ist?

Sie sind von der einem Kleinkaffstadt zu dem anderen gezogen, weil Uwe da arbeitet. Aber ihr gemeinsamer Traum ist eigentlich, dass sie alle zusammen in den Osten ziehen und einen alten günstigen Bauernhof kaufen wollen. Sie wolle hier weg, hier ist es schlimmer als im Osten, alles voller Doppelharzer. Zumindest  machen die alle nichts und wirken auch nicht ausgelastet. Ja. Total adhs mäßig.

Hoffentlich geht Mia ihren Weg und lässt sich von ihrer Schwester oder anderen nicht unterbuttern. Melody/Lucifer kann sich sicher sein, dass Mia eine gute große Schwester sein wird. Zumindest kann sie bei den Matheaufgaben helfen.

"Wie ist das eigentlich?", fragt Mia, als sie Bleistift und Arbeitsheft in ihren Ledertornister in zweiter Generation packt. "Schwangere sollen doch keinen Energydrink trinken, oder?" Zum ersten Mal heute höre ich Maja schweigen. Es dauert ganze zwei Minuten, bis sie ihre Stimme wieder findet.

Die kleine Mia soll jetzt zum Bus rennen, befiehlt Maja. Bei Schnee und Eis. Ob an diesem kleinen Bahnhof überhaupt gestreut ist? Aber der letzte Bus fährt um 14 Uhr, eben jetzt. Und Maja kommt dann mit dem Koffer hinterher. Mia springt auf und rennt los. Seelenruhig wühlt Maja in ihrer Handtasche.
"Sag dem Busfahrer er soll warten. Mama ist schwanger.", schreit sie der Kleinen hinterher.


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