Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Schafft den Migrationshintergrund ab
2) Die deutsche Justiz steht vor dem Kollaps
3) Left Economy, Right Economy
5) Die Rückkehr der Menschenfeindlichkeit
6) Braucht es die SPD?
7) Trump's ambassador to Germany is sabotaging the Atlantic alliance
8) Wegen fehlender Erntehelfer verfaulen jetzt die Erdbeeren
9) Empörung und Mitwissen
10) Steam's new "anything goes" policy is doomed from the start
11) Merkel on EU-reform: a decryption
1) Schafft den Migrationshintergrund ab
Trotzdem bin ich seit der Sendung verstört. Schuld daran ist eine tagelange Auseinandersetzung mit der ARD-Pressestelle. Die gab es, weil der Sender die Zahl der "Deutschtürken" einfach mal so um 1,7 Millionen erhöht hat. [...] Und ich perplex: Fast zwei Millionen Turkodeutsche mehr als bisher. Fällt die wundersame Vermehrung der Deutschtürken niemandem auf? Oder sind die Leute so von der "Islamisierungs"-Propaganda eingenommen, dass sie es für normal halten? [...] Also hake ich noch mal nach bei der ARD. Der Kollege belehrt mich, dass eine Pressemitteilung nun mal "keine wissenschaftliche Arbeit mit Belegen" sei. Und präzisiert die Quelle als "ein Gespräch mit einem Migrationsexperten im Sommer letzten Jahres". Als ihm klar wird, dass ich berichten will, reagiert die Sendeanstalt nach vier Tagen endlich mit einer etwas anderen Stellungnahme: "Aufgrund einer nicht mehr hundertprozentig nachvollziehbaren Recherche" halte man die Zahl von viereinhalb Millionen "nicht mehr aufrecht". Im Internet werde man sie auf 2,8 Millionen korrigieren. Und schiebt hinterher: "Auch wenn diese Zahl nicht alle von uns in Betracht gezogenen Generationen der weiteren Deutsch-Türken erfasst." Wie bitte? Wieso zählt die ARD einen Migrationshintergrund, von dem das Bundesamt die Menschen befreit? Weil sie offenbar findet, einmal Mihigru, immer Mihigru. Vielleicht ist es Zeit für eine radikale Forderung: Schafft den Migränehintergrund endlich ab! Er wird ohnehin nicht ehrlich erfasst.Ich habe hier schon öfter darauf hingewiesen, dass die Öffentlich-Rechtlichen eine der treibenden Kräfte hinter dem Rechtsruck der letzten Jahre sind. Solcherlei Zwischenfälle zeigen einmal mehr, dass das der Fall ist. Das eigentliche Thema des Artikels ist auch überdenkenswert, denn es trifft in den Kern des Problems, der die ganze Integrations- und Flüchtlingsdebatte vergiftet, seit diese in den 1970er Jahren begonnen hat: Was genau ist ein Deutscher? Die Mehrheit der Deutschen ist bis heute nicht bereit, Menschen mit deutschem Pass, aber dunklerer Hautfarbe, als "Deutsche" zu akzeptieren, weswegen die höfliche Gesellschaft den "Migrationshintergrund" bemüht, während der eher unhöfliche Teil "Ausländer!" bafft und die AfD wählt, auf dass sie ihn erlösen. Durch das ständige Abheben auf eine statistisch so offensichtlich schwer messbare Größe wie den Migrationshintergrund wird diese Problematik am Leben erhalten. Es wäre wesentlich zielführender, in Staatsbürger ("Deutsche", also Menschen mit deutschem Pass) und andere zu unterscheiden ("Ausländer", also Menschen ohne). Aktuell geschieht das nicht, und selbst Einwanderer in der dritten Generation werden häufig noch als Ausländer angesehen, wie jüngst etwa die SPD-Landtagsabgeordnete Giorgina Kazungu-Haß, die von einem Bahnkontrolleur aus der ersten Klasse geworfen wurde, weil jemand der so aussieht wie sie ja unmöglich ein Ticket haben oder richtig Deutsch sprechen kann. Solange diese Probleme ungelöst bleiben, ist alles Gerede von Integration hanebüchen. Es ist die große Bringschuld der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die auch nach 50 Jahren immer noch aussteht.
2) Die deutsche Justiz steht vor dem Kollaps
Oberstaatsanwalt Krüger ist nicht der einzige Staats-Jurist, der sich überfordert fühlt. Schon 2017 forderte der Vorsitzende des Richterbundes, Jens Gnisa 2000 zusätzliche Richter und Staatsanwälte. Die deutschen Verwaltungsgerichte sind aufgrund der Klagen von abgelehnten Asylbewerbern überflutet: Allein dort ist die Rede von aktuell etwa 250.000 Verfahren. In Hessen wurden bis Ende 2015 im Justizbereich 430 Stellen abgebaut, mittlerweile stellt das Land wieder Beamte ein. Die Präsidenten der Brandenburger Gerichte schrieben im November 2017 einen Brief an das dortige Justizministerium: Wegen der Überlastung müssten sie zunehmend Rabatte auf Strafen gewähren, weil die Verfahren alle so lange dauerten. Selbst in Bayern, einem der reichsten Bundesländer kann der Justizapparat seine Aufgaben kaum noch wahrnehmen. Die Vorsitzende des bayrischen Richtervereins, Andrea Titz erklärt gegenüber der WirtschaftsWoche: „Die Überlastung der Gerichte in Bayern ist nach wie vor immens. Zum Stand 30.09.2017 fehlten in Bayern 185 Richter und 222 Staatsanwälte. Und seitdem hat sich da wenig verbessert.“ Diese Überlastung der deutschen Justiz hat Folgen: Verfahren ziehen sich über Jahre, Straftaten verjähren und teilweise müssen Verdächtige aus der Untersuchungshaft freigelassen werden. Die gefährden wiederum die Bevölkerung. Umfragen zufolge haben fast ein Drittel der Deutschen kein Vertrauen in die Justiz. Der Kampf des Rechts wird dabei teilweise mit ungleichen Mitteln geführt. In Prozessen sieht sich Oberstaatsanwalt Krüger aus Frankfurt regelmäßig einer Armada von Anwälten gegenüber: „Ich saß letztes Jahr mit einem anderen Staatsanwalt in einer Verhandlung, uns gegenüber die Angeklagten mit 20 bis 30 Anwälten. Da schlägt natürlich die Stimmung hoch.“ Dabei kämpft Krüger oft für hunderte Menschen, die von windigen Aktienbetrügern übers Ohr gehauen wurden und so manchmal um zehntausende Euro betrogen wurden. Die Aktienbetrüger können sich die besten Anwälte leisten. Und diese wiederum tun alles, um Verfahren auszubremsen: „Manchmal werden einfach aktenordnerweise unnütze Erklärungen und Beweisanträge vorgelegt und über Tage oder Wochen verlesen. Der Möglichkeit, Verfahren zu verzögern, setzt das deutsche Rechtssystem kaum Grenzen. Das ist natürlich eine große Schwachstelle.“Es ist unglaublich, wie die Ideologie der Schwarzen Null überall das Land zerstört. Ob verfallene Autobahnbrücken oder Justizverfahren, das Bamf oder die Schulen, überall ist die staatliche Infrastruktur am Bröckeln und können die Aufgaben nicht mehr richtig wahrgenommen werden. Es ist Konkursverschleppung, und jeder Vorstand, der seinen Betrieb so führt - um Stefan Pietschs Lieblingsmetapher zu benutzen - würde sich harsche Fragen von den Stakeholdern gefallen lassen müssen. Die Aushöhlung der Justiz im Speziellen hat eine ganze Reihe äußerst negativer Nebeneffekte. Einerseits können viele Verfahren nicht mehr ordnungsgemäß abgewickelt werden, was etwa im Fall hochkalibriger Steuer- oder Wirtschaftsverbrechen einer Art Freifahrtschein gleichkommt. Andererseits sorgt es dafür, dass Massenverfahren - Routineangelegenheiten wie das Urteilen an Straf- oder Zivilgerichten und insbesondere in der Sozialgesetzgebung - schneller abgehandelt werden müssen, wodurch mehr Fehler passieren. Und all diese Effekte der Konkursverschleppung werden dann von genau den Ideologen, die sie überhaupt erst zu verantworten haben, als Beweis dafür genutzt, dass der Staat die ihm übertragenen Aufgaben nicht richtig lösen kann und als Argument für weitere Privatisierungen benutzt.
3) Left Economy, Right Economy
A number of studies and polls have shown that voters tend to be able to disaggregate their personal and local economic fortunes from their assessment of the national economy. Before the last election, losing a job or losing income did not drive voters into Trump’s arms, nor did manufacturing density or changes in the local jobless rate. And though Democrats and Republicans are living in more different economies than they were three decades ago, that does not mean that one group is doing better than the other—certainly not in a way that translates into such suddenly different levels of consumer confidence. Republicans have somewhat higher incomes and lower unemployment rates than Democrats, and have for years. Rather, social scientists think, it is that the economic picture is a Rorschach test, and partisans are reading what they want into the curves and dots of its inkblot. Republicans are now focusing in low unemployment and the sky-high stock market. Democrats are now focusing on wage stagnation and inequality. “When you have these ambiguous economic conditions, it leaves room for partisan bias and these kinds of economic rationalizations,” said John Sides, a political scientist at George Washington University. Sides noted that in the late 1990s, when the economy was unambiguously excellent, and in the late aughts, when it was unambiguously terrible, partisan gaps in economic expectations tended to collapse.Es gehört zu den faszinierendesten Effekten des Trump-Siegs, dass mit dem Moment der Inauration die Frage nach dem Stand der Wirtschaft für die meisten Republicans um 180° gedreht wurde: sagten vorher nur 20%, dass die wirtschaftliche Entwicklung gut sei, waren es nun plötzlich 80%. Geändert hatte sich: nichts. Denselben Effekt gab es umgedreht auch bei den Democrats, wenngleich, wie stets, in einer deutlich abgemilderteren Form. Die Entkopplung des Blicks auf die wirtschaftliche Lage von irgendwelchen Realitäten und ihre Unterwerfung unter die Logik der Polarisierung hat wichtige Folgeeffekte. Gerade die Midterms werden deutlich von der Frage geleitet, wie die Wirtschaft eingeschätzt wird. Die konsistente Erholung mit akzeptablen, wenngleich nicht gerade berühmten Wachstumsraten, die Trump von Obama geerbt hat, spricht eigentlich für den Präsidenten und seine Partei. Nur sorgt die Polarisierung dafür, dass dieser Wirkmechanismus - der noch unter Obama galt - rapide an Bedeutung verliert. Wenn der Stand der Wirtschaft nur noch davon abhängt, wer das Weiße Haus besitzt, dann hilft oder schadet er elektoral auch kaum mehr, was eine neuartige Abweichung darstellt. Ich möchte die Gelegenheit auch kurz nutzen, ein Grundsatzstatement loszuwerden: der Präsident hat nur sehr wenig Einfluss auf die Lage der Wirtschaft (dazu braucht es gut koordinierte Zusammenarbeit mit dem Kongress). Die US-Wirtschaft, über die Trump gerade präsidiert, ist daher effektiv dieselbe, über die Obama vorher präsidierte. Obamas große Leistung ist die Abfederung der Rezession durch die Finankrise 2009, der "Stimulus" - vermutlich ist es sogar die größte Leistung seiner Amtszeit. Die anschließende Erholung der Wirtschaft mit ihren seither stabilen Wachstumsraten, die auch unter Trump weiterläuft (bis zur unvermeidlichen nächsten Rezession) läuft mehr oder weniger auf Autopilot. Das gilt im Übrigen auch für Deutschland: Merkel hatte bislang schlicht Glück, dass ihre Regierungszeit in so viel Aufschwungperioden fällt, und kann sich zusammen mit Peer Steinbrück die Meriten anheften, wie Obama die Folgen der Finanzkrise sehr klein gehalten zu haben. Hätte das Kabinett aber 1998 bis 2005 regiert, Schäuble würde niemals eine Schwarze Null erreicht haben, genausowenig wie es dem glücklos-uninspirierten Hans Eichel gelang. 4) Der Wolf und die bösen Geislein
Überhaupt ist es wesentlich wahrscheinlicher, von einem Hund gebissen oder gar getötet zu werden als von einem Wolf. Dem statistischen Bundesamt zufolge sterben in Deutschland pro Jahr eine bis sechs Personen an den Folgen eines Hundebisses. In den letzten 40 Jahren hat es dem norwegischen Wolfsforscher John Linnell zufolge in ganz Europa dagegen keinen einzigen tödlichen Wolfsangriff gegeben. [...] Als im Februar im Bundestag über das Thema gesprochen wurde, meldeten sich trotzdem gleich aus drei Parteien Abgeordnete zu Wort, die gern die Jagd auf Wölfe erlauben möchten, zumindest ein bisschen. Den Vogel schoss wie zu erwarten ein Vertreter der einzigen auf irrationale Ängste spezialisierten Bundestagspartei ab: Der AfD-Abgeordnete Karsten Hilse behauptete, Wölfe liefen "immer öfter seelenruhig durch Dörfer und an Bushaltestellen vorbei, an denen nur wenige Stunden zuvor Kinder auf ihren Schulbus warteten". Rotkäppchen, ick hör Dir trapsen. Vermutlich machen der AfD auch die ständigen illegalen Grenzübertritte zu schaffen, die nun mal zum Wesen des Wolfs gehören. [...] So ein Wolfsangriff sei "ein Trauma für Mensch und Tier" hat Andreas Schenk vom Bundesverband der Berufsschäfer kürzlich bei einer Anhörung in einem Bundestagsausschuss gesagt, was man sich gut vorstellen kann. So eine Szene muss Horrorfilmqualität haben. Dann aber fügte Schenk einen Satz hinzu, der sehr schön zeigt, dass der Wolf hierzulande trotz allem eher ein emotionales als ein praktisches Problem ist: "Schon die Angst davor", sagte der Schäfer, "ist unerträglich".Die Debatte um Wölfe in Deutschland ist tatsächlich ein absolutes Paradebeispiel für irrationale Ängste. Es ist faszinierend, was da jeweils auf die Tiere projiziert wird. Man fragt sich an der Stelle unwillkürlich, wie viel dieser Mechanismen auch in anderen Kontexten wirken - etwa wenn diese Ängste auf die Flüchtlinge projiziert werden.
5) Die Rückkehr der Menschenfeindlichkeit
Sebastian Haffner, der überaus genaue Chronist des rapiden Deutungs- und Einstellungswandels ab 1933 in Deutschland, erwähnt in seiner Geschichte eines Deutschen einen bemerkenswerten Mechanismus der damaligen öffentlichen Debatte: Indem die Nazis, schreibt Haffner, "irgendjemand – ein Land, ein Volk, eine Menschengruppe – öffentlich mit dem Tode bedrohten, brachten sie es zustande, dass nicht ihre, sondern seine Lebensberechtigung plötzlich allgemein diskutiert – d. h. in Frage gestellt wurde. Jeder fühlte sich auf einmal bemüßigt und berechtigt, sich eine Meinung über die Juden zu bilden und sie zum besten zu geben. Man machte feine Unterscheidungen zwischen 'anständigen' Juden und anderen; wenn die einen, gleichsam zur Rechtfertigung der Juden – Rechtfertigung wofür? Wogegen? – ihre wissenschaftlichen, künstlerischen, medizinischen Leistungen anführten, warfen die anderen ihnen gerade dies vor: Sie hätten Wissenschaft, Kunst, Medizin 'überfremdet'." Bekanntlich gab es trotz aller Gewaltaktionen gegen "Gemeinschaftsfremde" keine "Nazifrage" im Deutschland jener Jahre, sondern eben eine "Judenfrage". Nicht die Angreifer der Demokratie und des Rechts erschienen als Problem, sondern ihre potenziellen Opfer. Vergleichbares erleben wir seit mehr als zwei Jahren in Europa und leider auch in Deutschland. Völlig unbeschadet von allem, womit man jenen entgegengekommen ist, die die Flüchtlingspolitik der alten Bundesregierung kritisiert hatten (man gab ihnen Verschärfungen des Asyl- und Aufenthaltsrechts, die Einrichtung von Heimatministerien, die Verankerung einer "Obergrenze", die nur nicht so heißt, und manches mehr), ist eine "Konsensverschiebung" (Igor Levit) zu beobachten, in der sich das Phantasma einer "Masseneinwanderung" desto aggressiver verbreitet, je weniger Menschen ins Land kommen. Sozialpsychologisch ist das ein Klassiker: Vorurteile und Ressentiments gedeihen dort am besten, wo es die Hassobjekte in Gestalt etwa von "Ausländern", "Muslimen", "Flüchtlingen", "Juden" und so weiter gar nicht gibt, wo mithin keine Realitätsprüfung stattfinden muss. Und so haben wir jetzt eine "Flüchtlingsfrage", keine "Menschenfeindefrage".Ich halte das für einen ungeheuer wichtigen Punkt, weswegen mich das Framing der Öffentlich-Rechtlichen auch so furchtbar nervt. Was hier alles an völligem Unsinn landauf, landab debattiert wird, weil man über jedes Stöckchen der Rechten springt! Der Sündenfall war da echt Sarrazin. Anstatt dessen Unsinn einfach als die rassistischen Fieberträume zu verurteilen, die sie waren, wurde der Wahrheitsgehalt seiner Thesen durch die Talkshows und Leitartikel gezogen, als ob es relevant wäre, ihn faktisch zu widerlegen (was eh nicht gelingt, weil diese Debatten jedes, jedes, jedes Mal in ein "he said, she said" ausarten). Es ist auch bemerkenswert, dass permanent debattiert wird - nein, reaffimiert wird - warum die Flüchtlingen sich keinesfalls in die Mehrheitsgesellschaft integrieren könnten, aber immer noch nicht ein einziges Mal vernünftig debattiert wurde, wann Integration denn eigentlich erreicht sein solle und welche Pflicht die Mehrheitsgesellschaft diesbezüglich hat. Das ist alles so unendlich verloren, dass man nur noch kotzen möchte.
6) Braucht es die SPD?
Alle wählen die SPD. Aber eben nur noch 20% von allen: a) Die Wähler der SPD sind so unterschiedlich wie bei keiner anderen Partei. b) Es gibt keine Partei, bei der sich mehr Menschen vorstellen könnten ihr Kreuz zu machen als bei der SPD (ca. 35–40%). Es gibt keine Partei, bei der weniger Menschen kategorisch ausschließen (ca. 20%), dass sie sie wählen würden. Die SPD schafft es die unterschiedlichsten Menschen anzusprechen und hat das größte Wählerpotential. Bei der Bundestagswahl standen am Ende trotzdem 20%. [...] Es wäre so viel einfacher, wenn wir uns nicht mehr um alle kümmern würden, sondern nur um einen Teil. Die Frage ist nur, ob wir dann jemals wieder mehr als 20% erreichen werden. Ob wir überhaupt noch Jemanden erreichen! Was unterscheidet uns noch von den anderen Parteien, wenn wir uns jetzt für einen Teil entscheiden? Sind wir dann die hippe, weltoffene Partei wie die Grünen, nur mit Braunkohle? Die linken Revolutionäre, nur für die NATO? Oder die Liberalen, aber mit Mindestlohn? In Wirklichkeit zielen alle diese Begründungen nur darauf ab die Partei intern zu befrieden. Weil es so unfassbar anstrengend ist, ständig alle diese politischen Konflikte auszutragen. Der SPD ist irgendwie das Kunststück gelungen, nur noch 20% der Menschen im Bundestag zu repräsentieren und trotzdem nahezu alle Konflikte der 100% auszutragen. (medium)In der beliebten Serie "Was läuft falsch bei der SPD?" kommt dieser empfehlenswerte Artikel. Die Zahlen, die hier genannt werden, sind schon erstaunlich. Die Partei hat ein großes theoretisches Wählerpotenzial, schafft es aber nicht auch nur im Ansatz, das zu erschließen. Wie das richtig gehen könnte, darüber scheiden sich natürlich die Geister. Was allerdings Konsens von den Agenda2010-Fans aus dem Seeheimer Umfeld bis zu den Revisionisten vom linken Flügel zu sein scheint ist, dass der aktuelle Ansatz des Hin- und Herlavierens, dieses nicht Fisch und nicht Fleisch, ganz sicher nicht funktioniert. Die SPD ist eine Partei, die nicht weiß, wofür sie eigentlich steht. Und wenn sie sich nicht bald entscheidet, nehmen ihr die Wähler die Entscheidung sehr, sehr endgültig ab.
7) Trump's ambassador to Germany is sabotaging the Atlantic alliance
Later, as the interview drew rapid, negative attention in Germany and elsewhere, Breitbart changed the headline, dropping the phrase “anti-establishment.” Hordes of social media enthusiasts also rose in Grenell’s defense: He wasn’t insulting Merkel! He meant no offense! But of course he was, and of course he did. These kinds of games are precisely how the radical right communicates with its supporters. Its propagandists nod, wink and put a new spin on old words — swapping “globalist” for “Jewish,” for example, as in “international globalist conspiracy.” Grenell’s hints were intended for Breitbart’s readers: They know this game, and they know that when Grenell says “empowering other conservatives throughout Europe,” he doesn’t mean that he supports the ruling coalition in the country where he is serving as U.S. ambassador. I repeat: It means that he supports their opponents. If Grenell has been sent to Germany in order to destabilize Merkel’s coalition, then a case can be made in his support: Maybe this is U.S. policy now; he’s just carrying it out. If Grenell has been sent to Germany in order to destabilize the Atlantic alliance, then he’s doing well at that, too: Most of the Populist International is strongly anti-American, pro-Russian and opposed to NATO. Grenell’s first action, on his first day in his new job, was to tweet an order to German companies doing business in Iran, telling them they should “wind down operations immediately.” This, too, was badly received. But if those are not his orders — and I’m sure someone will now deny that they are — then a different set of questions has to be asked. Why is the U.S. ambassador to Germany giving an interview to Breitbart? Why is he involving himself in partisan politics? For that matter, why is he an American ambassador at all? (Washington Post)Der Schlusspunkt dieses Artikels ist interessant, denn die Frage ist nicht so rhetorisch, wie sie scheint. Ist Grenells Ziel denn die Sabotage der transatlantischen Beziehungen? Trumps Fans haben keinen Zweifel daran, dass dies Trumps Mission ist und dass es sich um ein begehrenswertes Ergebnis handelt. Wie Trumps Berater (Bolton et al) dazu stehen, ist völlig unklar, und Trump selbst ist in allem was er tut dermaßen erratisch, dass der Versuch, kohärente Strategien aus seinen Handlungen zu lesen, ohnehin zum Scheitern verurteilt ist. Er sieht die EU klar als Gegner, wie seine Anhänger auch, aber welche Konsequenzen daraus genau erwachsen ist völlig unklar. Leute wie Grenell an die entscheidenden Schalthebel zu packen könnte aber die Notwendigkeit einer Festlegung beseitigen. Denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese fleischgewordenen Beleidigungen die Außenbeziehungen der USA tatsächlich zerfasern lassen, und von dort aus hat sich die ganze Frage dann erledigt. Man sollte sich auch nicht der Illusion hingeben, dass dies ein auf Trump und seine Sykophanten beschränktes Phänomen wäre. Die GOP hat diese ganzen Schauergestalten schließlich im Senat bestätigt. Die spannendste Frage ist daher weniger die Richtung, die Trumps Außenpolitik gerade nimmt, sondern ob 2020 beziehungsweise 2024 eine Reperatur dieses Verhältnisses möglich ist. Obama hat seinerzeit die Schäden der Bush-Zeit weitgehend repariert. Aber mein Gefühl ist, dass der Graben dieses Mal tiefer reicht. Und die EU ist bemerkenswert schlecht darauf vorbereitet, damit umzugehen.
8) Wegen fehlender Erntehelfer verfaulen jetzt die Erdbeeren
Manchen Erdbeer-Bauern in Deutschland bleibt schon jetzt nichts anderes übrig, als Teile ihrer Ernte hängen und verfaulen zu lassen. Im Verband Süddeutscher Spargel- und Erdbeeranbauer (VSSE) registrierten laut einer Umfrage zwei Drittel der Betriebe einen mäßigen oder sogar deutlichen Rückgang bei der Verfügbarkeit von Saisonkräften. [...] Jährlich werden in Deutschland rund 162.000 Saisonarbeiter für die Ernte von Erdbeeren und Spargel eingesetzt. Laut Simon Schumacher ist es gar nicht mal so sehr das Problem, Leute anzuwerben. „Doch ob sie dann tatsächlich auch erscheinen, oder ob sie die gesamte Saison bleiben, ist eine andere Frage.“ Die Zuverlässigkeit habe stark abgenommen. Auch sei es ein Problem, Leute zu finden, die als Vorarbeiter taugen und andere auch mal beaufsichtigen oder anleiten können. „Wer flexibel im Kopf ist, ist oft auch mobil in den Beinen und findet leichter etwas anderes“, so Schumacher. Den Landwirten ist auch klar, dass ihre Arbeit nicht zu den Traumjobs gehört, auch wenn ab diesem Jahr erstmals der Mindestlohn von 8,84 Euro gezahlt wird. Aber das ständige Bücken, die Hitze oder der Regen, die Arbeit mit den Händen, all das macht die Erntehilfe zu einer besonderen Herausforderung. (Welt)Die Welt hat schon echt ganz schön Chuzpe. Die zahlen allen Ernstes dieses Jahr ERSTMALIG den Mindestlohn und wundern sich, dass keiner Bock hat im Hochsommer Spargel und Erdbeeren aus den Feldern zu klauben? Auch spannend, wie den ausländischen Saisonkräften hier die Schuld gegeben wird. Als ob es ein gottgegebenes Recht deutscher Bauern wäre, polnische Erntehelfer ausbeuten zu können. Wenn also der Job "eine ganz besondere Herausforderung" ist, dann muss man wohl besser bezahlen. Angesichts des ständigen Geredes von Angebot und Nachfrage, mit dem immer diese bedauerlichen Lohnsenkungen beziehungsweise Stagnationen gerechtfertigt wurden ist es echt spannend, dass niemand auf die offensichtliche Idee kommt.
9) Empörung und Mitwissen
Die Dialektik aus Provokation und programmiertem Aufschrei: Dieses Spiel beherrscht nicht nur die AfD perfekt. Doch statt nur über die Reizungen zu sprechen, sollte man auch die Reaktionen in den Blick nehmen. Das liberale Publikum erweist sich dabei regelmässig als naiv. Während die Rechtsnationalen ins Parlament zogen und die Schlagzeilen kaperten, wurden ihre menschenverachtenden Anliegen als valabel diskutiert: Die AfD erschien als völlig normale Partei, bedeute gar eine «Revitalisierungskur für den Bundestag», wie der Chefredaktor der NZZ erst vor wenigen Wochen schrieb. Nach Gaulands neuster Ansage hat sogar das ehemalige Flaggschiff des Liberalismus genug, bei Sprüchen zum Holocaust gibt es kein Pardon: Neuerdings gilt die AfD selbst dort als «Nazi-Verharmloserin». Die Liberalen mögen sich nun wieder einmal in ihrem Selbstverständnis als wachsame HüterInnen der Demokratie sonnen. Ihr Opportunismus zeigt sich aber, wenn man an die Einladung eines AfD-Philosophen nach Zürich vor etwas mehr als einem Jahr zurückdenkt: Fast alle Medien hielten die Meinungsfreiheit hoch, wollten ihn unbedingt reden hören – obwohl seine völkischen Thesen längst bekannt waren. In Deutschland wird jetzt debattiert, Gauland nicht mehr ins Fernsehen einzuladen. Doch die Diskussion, ob man mit Rechten reden soll, bringt wenig. Denn auch wenn sie nicht auf Podien oder in Talkshows sitzen, diktieren sie längst die Agenda, haben praktisch schon die Themenplanung übernommen. Von allen Warnungen offenbar unbeeindruckt, sprach man in Deutschland diese Woche erneut über «kriminelle Flüchtlinge» und lud zur «Islamdebatte». Und auch im SRF-«Club» ist «der Islam» einmal mehr das Thema der Stunde. Als Experten geladen waren am vergangenen Dienstag «Politsatiriker» Andreas Thiel und ein reaktionärer Bischofssprecher. Die Verschiebung des Diskurses nach rechts, sie hat schon längst stattgefunden. (Wochenzeitung)Wie bereits in Punkt 5) angesprochen: "Mit Rechten reden", wie der Titel eines viel zu viel beachteten Buches letzthin forderte, ist kontraproduktiv. Alles was man tut ist deren Framing übernehmen, und damit haben sie bereits gewonnen. Wer ihnen die Genugtuung gibt, ihre Thesen seriös zu debattieren, auf Grundlage ihrer eigenen Prämissen, gibt ihnen alles was sie wollten. Den Gefallen hat man der Linken in den letzten 20 Jahren praktisch nie getan.
10) Steam's new "anything goes" policy is doomed from the start
The first of many problems with this policy is that Valve has, for the first time that I can recall, said explicitly here that it does not care who is mad. To Valve, one person or group's anger is exactly equal to any other's, and everything people get angry about is simply a sign for 'controversy.' [...] Here, racism is not defined as "bad," but as a "controversial topic." It is grouped with other "controversial topics," such as sexuality and identity and even the quality of a game. So it seems that in Valve's view, a customer's anger over an overtly racist game is exactly the same as a customer's anger over a game about gender identity or sexual orientation. This is a categorically absurd view. It defines hate speech and being the target of hate speech as the same thing. It defines hate speech and being mad about bad Early Access releases as the same thing. It is ridiculous. Valve could be talking about games which 'address racism' here, but how can it not also be talking about 'racist games'? If anything goes, they are part of anything (and are already not strangers to Steam). Valve wants us to know, however, that the games allowed on Steam "will not be a reflection of Valve’s values." Steam, then, is a conduit for developers to reach players, a utility, a free-flowing, non-stop content pipe that can contain anything (so long as it isn't illegal). This idea is also easily exposed as bogus. Frame it like this: 'Steam is not a racist platform, but it will host racist games, promote them, and take a cut from their sales.' How can Valve say that promoting and profiting from a game doesn't reflect its values? It's a value judgment to allow this to happen in the first place. (PC Gamer)Valves neue Politik ist typisch für die gesamte Videospielbranche. Sie ist in den letzten Jahren gewaltig angewachsen und längst dem Segment der 15-20jährigen entwachsen, aber die Videospielfirmen scheinen immer noch nicht bereit zu sein die Konsequenzen daraus zu ziehen, dass der durchschnittliche Gamer heute bereits über 30 Jahre alt ist und verhalten sich so, als würden sie nur an große Kinder verkaufen. Das betrifft auf der einen Seite natürlich die erzählerische Qualität der Spiele, auf der anderen Seite aber eben auch solche Probleme wie sie Valves Vertriebsplattform Steam betreffen. Die Ansicht, man sei nicht verantwortlich für die Inhalte und könnte sich so als mutiger Proponent der Meinungsfreiheit beziehungsweise Gegner von Zensur inszenieren ist wenig zielführend.
11) Merkel on EU-reform: a decryption
On 3 June, the German chancellor finally gave her long-awaited answer to the proposals of the French president to reform the European Union (EU) – or at least that is how the chancellery wants the interview given to Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung to be seen. The interview spans a wide range of issues. In this text, we focus on the three main policy areas that will be discussed at the June European Council meeting: the reform of the euro area, the future of asylum and migration policy, and the next steps in foreign and security policy. [...] The interview describes in great detail the chancellor’s position on two central pillars of Eurozone reform: How to reform the European Stability Mechanism (ESM) and how to build a potential budget for the euro area. Banking union and capital markets union – i.e. the two main vehicles to promote private risk sharing – are only mentioned in passing in one sentence. This is a message in itself: Merkel explicitly acknowledges that euro area reform needs to go beyond finishing touches on the financial side but has to include steps on fiscal policy. This is new – and was a sine-qua-non for the Élysée. This also indicates that the next steps on banking union are now seen as a done deal (i.e. there will be a backstop for the Single Resolution Fund in the ESM) but that there will be no further opening in this round of negotiations on a European deposit insurance scheme. [...] Even if they arrive rather late in the process, the German proposals for EU reform represent a good first step. This also summarises the reactions from Paris and Brussels. It was not the “new dawn for Europe” that the German coalition agreement promised. Many of the proposals reflect a pragmatic attempt to bridge the divide between expectations in other member states and domestic constraints ahead of a summer that will temporarily close the window of opportunity for significant EU reform. Germany will have to make more important second steps in the months and years ahead to avoid a prolonged phase of reform stagnation. As the chancellor said, Europe is at a crossroads and “if we stand still, we will be pulverised by the big global structures”. (Delors Institute)Der Artikel ist in seiner ganzen Länge empfehlenswert, weil er Merkels Aussagen aus dem wichtigen Interview in Kontext stellt. Dass Macrons Vorschläge von Merkel nicht 1:1 übernommen werden würden war ja von Anfang an klar, aber eine Weile sah es ja so aus, als ob sie aus innenpolitischen Gründen jegliche EU-Reform blockieren. Vor dieser Folie sind ihre Vorschläge nun vergleichsweise weitgehend, was ein wahrlich positives Zeichen ist. Natürlich, und das ist wahrlich Merkel-typisch, sind die vorgeschlagenen Schritte überall viel zu klein, um die zugrundeliegenden Probleme zu lösen, und versucht sie, die zarten Pflänzchen der Demokratisierung der EU zurückzurollen. Aber unter den Umständen lässt sich nur wenig Besseres bekommen, und da ist man froh über alles, was man kriegt...