Merkel: Die gelenkte Demokratie

Merkel: Die gelenkte DemokratieEs kündigte sich schon als enges Rennen an, nachdem alle politischen Parteien die Ernennung des neuen Wulff einmütig im Hinterzimmer beschlossen hatten, um die Demokratie zu stärken. Postwendend geschah, worauf außer der wie immer weitsichtigen Bundeskanzlerin niemand gesetzt hatte: Das Volk im Lande Virtualien stand auf. Ein Sturm brach los. Der MDR musste eine Umfrage vom Netz nehmen, weil sie gegen den Konsenskandidaten einer ganz kleinen Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich unvernünftiger Politprofis ausgegangen war. #NotmyPresident twitterte es. KeinGauck, forderten Facebook-Nutzer.
Einmal mehr hatte Angela Merkel durch die Hintertür erreicht, was sie schon seit langem bezweckt. Die Demokratie in Deutschland, bis letzte Woche eine Angelegenheit, die Sigmar Gabriel, Thomas de Maiziere, der kleine Rösler und vier weitere Herren in abendlichen Talkshowrunden als Coverversion von „Dinner for One“ nachspielen, ergreift die Massen, schlägt hohe Wellen, peitscht an die Fassaden der Fernsehanstalten, als gäbe es noch Leben im Dunstkreis von politischem Aschermittwoch und permanenter Griechenlandrettung.
Die Menschen, in den zurückliegenden Jahren dank einer europäisch harmonisierten Zuschau-Demokratie dazu erzogen, Regiertwerden als unpolitischen Verwaltungsakt zu begreifen, sind wieder an Bord der Debatte, die längst eingeschlafen war. Aufruhr! Widerstand! Warum werden wir eigentlich nie gefragt?, wollen Leute wissen, die vor Wulff nicht einmal mehr die Tagesschau angeschaltet hatten.
Wenn es der Plan von Christian Wulff war, sich für dieses Ziel aufzuopfern, so muss sein Canossa-Gang zu Maschmeyer, Gerkens und Co. im Nachhinein heiliggesprochen werden. Wenn es Angela Merkel war, die den arglosen NNachwuchsmann aus Niedersachsen über Bande spielend zu diesem Zweck benutzt hat, ist die planerische Meisterleistung vielleicht noch höher einzuschätzen.
Das ist Staatskunst, wie sie Wilhelm II. vor dem I. Weltkrieg und Helmut Kohl zu Zeiten der Wiedervereinigung demonstriert hatten. Die lange Linie liegt offen zutage: Merkel installiert Wulff, um mit dem blassen Niedersachsen das totale Primat der Politik über alle anderen Lebensäußerungen zu beweisen. Bürger, du bist nichts als das Subjekt unserer Fürsorge, so lautete die Botschaft.
Mit dem von langer Hand geplanten quälend langsamen Sturz aber steuerte Merkel dann das eigentliche Ziel an: Den eingeschlafenen Wutbürger auf der Straße wecken, ihn für seine eigenen Angelegenheiten zu interessieren. Merkel weiß: Das funktiniert nicht bei komplexen Themen wie der Griechenlandrettung, Afghanistan oder der Gesundheitsreform. Es funktioniert wie nur über Personen.
Und eine allein reicht auch noch nicht, das lähmende Schweigen der Vielen zu brechen. Wulff wäre eine Episode der jenningerreichen deutschen Geschichte geblieben, hätte die sensible Kanzlerin ihre Aufstachelung der schweigenden Mehrheit zu mehr Teilhabe nicht noch weiter getrieben. Das aber tat sie. Auch der Nachfolger Wulffs wurde auf ihre Initiative hin demonstrativ auf dem sogenannten Wulff-Weg bestimmt: Kleine Kungelrunde. Eilige Entscheidung wie immer bei der Eurorettung. Alles muss fertig sein, bevor die Börsen in Fernost öffnen. Fertiges Ergebnis mit froher Botschaft pünktlich zur „Tagesschau“.
Erziehung durch Provokation, Demokratisierung durch den angedrohten Entzug demokratischer Privilegien, Volksherrschaft durch die Vorführung einer selbstgefälligen Hinterzimmer-Diktatur der Parteifunktionäre, darauf spekulierte die große Demokratin Merkel. Sie erklärt ihre Winkelzüge nicht, offenbart nicht, wie ihre gelenkte Demokratie von oben nach unten graswurzelt, um dann von unten nach oben Beteiligung zu generieren, weil sie dann ihre Wirkung verlören. Doch Historiker werden sie einst als große Volkserzieherin, ja, vielleicht sogar als wahre Wiederbegünderin der deutschen demokratischen Republik bezeichnen.
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