kollege renz-polster hat ein neues buch geschrieben, und ich möchte so unbedingt was darüber hier loswerden – aber mir fehlen immer noch die letzten vierzig seiten – da kommen noch so coole thesen. herr roth und herr fforde halten mich mit ihren geschichten immer wieder von den menschenkindern ab. trotzdem schreibe ich jetzt mal was.
renz-polster ist kinderarzt und vater – so wird er regelmäßig vorgestellt. sicher ist er vater und kinderarzt, in dieser reihenfolge. aber das ist eine marginalie. er knüpft seine gedanken der evolution und wie sie unsere kinder prägt und damit auf die erziehung durch ihre eltern trifft, aus seinem buch „kinder verstehen“ fort und bringt sie auf den punkt. so nennt sich das buch auch im untertitel „ein plädoyer“, und ich habe spontan gedacht: ja, genau, das hat dem ersten buch noch gefehlt – den zugespitzten gedanken, die forderung, die quintessenz. anfangs wiederholt er viele seiner thesen, das mag ermüdend wirken, aber nicht jeder hatte die gelegenheit, das vorgängerbuch zu genießen.
ich habe renz-polster mit sicherheit falsch verstanden, aber er möchte eben keinen neuen, den hundertfünfzigsten, erziehungsratgeber schreiben, nicht auch irgendeiner neuen these zur erziehung hinterherrennen, er will die gedanken kanalisieren, aus den erfahrungen der evolution heraus. so mistet er am anfang die „mythen“ aus, die uns viele moden und erziehungsexperten empfehlen. beispiele? ein kind hat über die jahrtausende gelernt, bei seinen eltern zu schlafen, schutz und so, und „bei uns“ bekommen die eltern beigebracht, kinder haben gefälligst im eigenen bett und eigenen zimmer zu schlafen. jedes kind kann schlafen lernen heißt eigentlich jedes kind hat alleine schlafen zu lernen. nach renz-polster kann kein kind instinktiv alleine schlafen lernen. es liefe „der art“ zuwider. und auch der quengelnde sprössling, der lieber getragen werden will, entstammt nur seiner ureigensten evolution, aus der die herde die jüngsten getragen hat, um weiter voranzukommen und vor den feinden zu flüchten.
und wir meinen, alles anders machen zu müssen, als unser instinkt uns sagt, aus der angst heraus, zu versagen. „angst vor dem verwöhnen, vor den tyrannen, nicht perfekt zu sein oder unsere kinder zu wenig zu fördern“, so kollege polster. und er spinnt seine gedanken weiter, der förderungswahn bekommt entsprechend sein fett weg, auch die schule (und das unsägliche frühe aufstehen), die spielfeindliche gesellschaft und die „grenzziehungen“ in der erziehung, auch so eine empfehlung. auch die us-chinesin amy chua darf zu recht federn lassen.
ich bin sehr einig mit ihm, diese erfahrungen machen wir profis alle mit „unseren“ eltern und den kindern, die der erziehungswahn produziert hat. manchmal denke ich aber, evolution hat sich über die jahrtausende ja auch den gegebenheiten angepasst. und obwohl unser aktuelles homo sapiens dasein ein witz in der zeitspanne der welt bedeutet, ändern sich doch die umstände, die ernährungsgwohnheiten, fortbewegungsumstände und zwischenmenschlichkeiten, ja auch die familienstrukturen. viele instinktive handlungen funktionieren heute nicht mehr so gut, weil die umstände andere sind. aber dennoch: wenn der gedanke an die prägende evolution unsere eltern gelassener werden lässt, hat renz-polster schon viel erreicht.
wir kinderärzte erleben das ja schon: die eltern, die herzlich unbedarft mit ihren kindern umgehen, ohne jeden abend die nase in ein erziehungsbuch, mutter google oder einen kinderarzt-blog zu stecken, kommen mit ihren kindern „besser hin“. die vielleser müssen mehr gelassenheit lernen, ihnen sei dieses buch gewidmet. es bleiben die, die bindungsunfähig sind, und selbst keine eigene bindungskompetenz erlebt haben. ihnen hilft auch kein noch so schönes buch. sie brauchen tatsächlich tatkräftige hilfe durch ein sozialbindungsnetz. aber das führt zu weit weg.
nur noch eins: renz-polster zitiert gerne michael winterhoff als eines der negativbeispiele der erziehungsberatung. hier bin ich nicht bei ihm. ich glaube, die beiden haben nicht so konträre ansichten, ruft winterhoff doch auch zu mehr gelassenheit auf und mehr wiedererstarken der familien und deren stukturen. und diese sind nun einmal evolutionär hierarchisch geprägt. nach winterhoff dreht sich diese hierarchie aber in den letzten jahren um – den kinder wird zuviel kompetenz zugemutet, sie werden zu partnern gemacht. das sind sie aber nicht, sondern kinder, die ihre eltern als helfer auf dem weg brauchen. insofern fordert winterhoff auch mehr artgerechte erziehung ein, so wie herbert renz-polster in seinem buch „menschenkinder, plädoyer für eine artgerechte erziehung“.
lesenswert. menschenskinder!