Menschen am Sonntag (1930)

Erstellt am 12. Mai 2016 von Michael

MENSCHEN AM SONNTAG
D 1930
Mit Erwin Splettstößer, Brigitte Borchert, Wolfgang von Waltershausen, Christl Ehlers, Annie Schreyer u.a.
Drehbuch: Billy Wilder nach einer Reportage von Kurt Siodmak
Regie: Robert Siodmak  und Edgar G. Ulmer
Studio: Filmstudio Berlin
Dauer: 74 min

Vorspann:
Fünf Menschen in Berlin, in der Zeit zwischen der Wirtschaftskrise und dem Aufkommen des Nazionalsozialismus‘: Ein Taxifahrer, eine Schallplattenverkäuferin, ein Weinhändler und eine Filmkomparsin. Zwei von ihnen, ein Mann und eine Frau, finden einigermassen zufällig zusammen und verabreden sich fürs Wochenende. Mit der jeweils besten Freundin / dem besten Freund im Schlepptau trifft man sich zur Fahrt ins Blaue. Nach einem frivolen Bäumchen-wechsle-dich-Spiel geht man danach wieder auseinander – der Alltag lauert bereits wieder hinter der nächsten Ecke.

Der Film:
Keine Action. Keine monumentalen Kulissen. Und vor allem: Keine Stars. In einer Zeit, da die UFA-Studios mit teuren und ambitionierten Grossproduktionen wie Metropolis, Faust oder Die Frau im Mond die Leute bis ins ferne Amerika in die Kinosäle lockten, setzte ein Grüppchen gewitzter, filmbegeisterter Jungspunde einen Kontrapunkt mit einem No-Budget-Stummfilm. So ist es und nicht anders sollte er ursprünglich heissen und die überbordenden UFA-Fantastereien mit nackter Realität kontrastieren. Er sollte „on location“ in Berlin und Umgebung gedreht werden und ohne Schauspieler auskommen. Genauer: Ohne Stars. Man engagierte Laien, die sich quasi selbst spielen sollten und die man nach ein paar Drehmonaten wieder ins Zivilleben entliess. Die Ironie der Geschichte ist, dass der Film sehr wohl seine Starpower hatte, nämlich die vier Leute hinter der Kamera. Das wurde allerdings erst im Lauf der Jahre manifest: Jeder einzelne der am Film beteiligten Autoren ist heute sogar für Cinéasten-Anfänger ein Begriff: Robert und Curt Siodmak, Edgar G. Ulmer, Fred Zinnemann und Billy Wilder. Die Prämisse „keine Stars“ wurde vom Fortgang der Geschichte quasi rückwirkend unterlaufen! Aber das konnte damals ja keiner der fünf ahnen.
Auch dass der Film auf Anhieb ein Erfolg wurde, ahnte keiner der Beteiligten. Ja, nicht mal zu hoffen hatten sie das gewagt.

Die beiden in den Credits unter „Regie“ aufgeführten Jungkünstler hatten bereits ihre Erfahrung im Filmgeschäft: Robert Siodmak hielt sich bei seinem Onkel Heinrich Nebenzahl bei der Produktion von dessen Harry Piel-Filmen mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Und Edgar G. Ulmer, der aus Amerika „zu Besuch“ war, hatte bei an den Sets von Murnaus Sunrise (dort als Assistent von Art Director Rochus Gliese) und bei Cecil B. DeMilles King of Kings (als Assistent von Art Director Mitchell Leisen) zu tun gehabt.
Roberts Bruder Kurt (später Curt) Siodmak legte die Grundlage zu Menschen am Sonntag mit einer Reportage, die fünf jungen Menschen an einem Wochenende auf ihren Streifzügen durch Berlin folgte. Billy (damals noch „Billie“) Wilder verfasste das Skript („sieben Seiten“). Und Fred „High Noon“ Zinneman war der Kameramann.
Wer von den fünf eigentlich was zum fertigen Film beigetragen hat, ist heute kaum noch zu eruieren. Ziemlich sicher ist der Beitrag von Kurt Siodmak, die Reportage. Gemäss Robert Siodmaks Memoiren, welche 1980 erschienen, sprangen praktisch alle ausser ihm nach kurzer Zeit vom Projekt wieder ab; er will Menschen am Sonntag quasi im Alleingang fertiggestellt haben. Gemäss Siodmak soll etwa Billy Wilder genau einen Gag beigetragen und während den Drehvorbereitungen und der Drehzeit mit permanenter Abwesenheit geglänzt haben.
Auf der anderen Seite existieren zwei Artikel von Billy Wilder, die ein gänzlich anderes Bild ergeben. Der erste der beiden Text wurde während den Dreharbeiten verfasst, der andere kurz nach der gloriosen Premiere. Gemäss Wilders Bericht war der Film sehr wohl ein Kollektivwerk, das alle fünf fast an den Rand des Nervenzusammenbruch und des Ruins getrieben haben soll.
Kurt Siodmak bestätigt die Version seines Bruders Robert, während Laiendarstellerin Brigitte Borchert in einem Interview von 2000 aussagte, dass Billy Wilder während dem Dreh immer die Blenden halten musste, er also keineswegs „mit Abwesenheit geglänzt“ hatte.

Unbestritten ist, dass Robert Siodmak die treibende Kraft hinter Menschen am Sonntag war. Auch wenn die Grundidee hinter dem neuartigen Projekt vielleicht nicht von ihm stammte (was aber auch nicht sicher ist), so hat er den Film doch im Laufe der Drehs zu seiner Sache gemacht. Die Desillusionierung lauerte stets hinter der nächsten Ecke – chronischer Geldmangel, wochenlange ungünstige Wetterverhältnisse, ein wankelmütiger Produzent und eine unprofessionelle Darstellertruppe liessen das Projekt immer wieder stagnieren.  Doch Siodmak trieb seine Crew an, er hatte die Vision und glaubte an das Vorhaben. Ihm und seinen Beziehungen ist wohl auch zu verdanken, dass Menschen am Sonntag nicht in einem popeligen Kleinkino, sondern im Ufa-Palast am Ku’Damm Premiere hatte.

Gefilmt wurde ohne Drehbuch. Man setzte sich am Anfang des Drehtags in ein Café, die vier Hauptdarsteller und die vier Autoren an verschiedenen Tischen, und dann besprachen Siodmak, Ulmer und Wilder den nächsten Dreh. Nach einigem hin und her wurde der Entschluss dem Nebentisch mitgeteilt und los ging’s. Zum Wannsee. In die Stadt. Ins Studio (die Innenaufnahmen im Studio wurden alle am selben Tag gedreht). Während dem Dreh entstanden neue Ideen, die gleich eingebaut wurden. Die Darsteller agierten dank der lockeren Planung oft spontan, was manchmal zu neuen Szenen und Wendungen führte.
In den Pausen der Darsteller wurden das Treiben am See gefilmt, der Trubel der Stadt, dokumentarisches Material, das heute Zeugnis ist über das Leben im noch unbeschwerten und ungeteilten Berlin vor Hitlers Machtübernahme. Das war neu und frisch an Menschen am Sonntag: Die enge Verzahnung von Spielfilm und Dokumentation, die so weit geht, dass man das eine streckenweise nicht vom anderen unterscheiden kann. Die Darsteller werden bei der Ausübung ihrer Arbeit gezeigt; diese Szenen scheinen nicht gestellt zu sein, sie wirken dokumentarisch. Dann gibt es auf der anderen Seite dokumentarisch anmutende Sequenzen, die aber ganz klar inszeniert, „gestellt“ sind.
Die beiden Filmsparten wurden völlig sorglos verquickt und durcheinandergewirbelt, ihre jeweiligen Regeln und Konventionen über Bord geworfen. Dieselbe Sorglosigkeit ist auch im Grundton des Films zu finden: Menschen am Sonntag ist ein unbeschwerter, heiterer Film, der die Sonnenseiten des Berliner Lebens zeigt. Darin liegt wohl auch sein märchenhafter Erfolg begründet.

Der Film war Stadtgespräch, die Zeitungen voll des Lobs über die jungen Filmer. Noch heute hat seine Reputation nicht nachgelassen, er wirkt noch heute frisch und aufregend. Filmhistoriker sehen darin die Vorwegnahme der nouvelle vague, des neorealismo. Die Zeit war damals nicht reif, diese neue Art Film setzte sich nicht durch. Die Nazis mit ihrem Kulturfundamentalismus räumten mit solch abartigem Ideengut schlagartig auf. Sie räumten auch mit den Filmemachern auf, die allesamt nach Amerika flohen. Mit bekannten Folgen…

Abspann:
– Alle Laiendarsteller – ausser Brigitte Borchert – wirkten dank des grossen Erfolges von Menschen am Sonntag noch in ein paar Filmen mit. Taxifahrer Erwin Splettstößer plante sogar eine Karriere als Filmkomödiant, die aber mangels schauspielerischem Talent vorbei war, bevor sie richtig begonnen hatte: In den zwei Folgefilmen Robert Siodmaks war er in Nebenrollen zu sehen, danach erlosch sein Stern am Filmhimmel.
Robert Siodmak wurde gleich nach der gefeierten Premiere seines Erstlings Menschen am Sonntag von der UFA als Regisseur engagiert. Sein erster Film war ein Kurzfilm mit Hedwig Wangel und Felix Bressart. Er trug den bemerkenswerten Titel: Der Kampf mit dem Drachen oder: Die Tragödie des Untermieters. Nach der Machtübernahme der Nazis floh er zunächst nach Frankreich, wo er einige Filme drehte, bevor er sich 1941 endgültig in den USA niederliess. Siodmak ist heute für seine film noir-Beiträge, u.a. The Spiral Staircase (dt.: Die Wendeltreppe, 1945) berühmt.
Curt Siodmak ist für seine Beiträge zum klassischen Horror- und Science-Fiction-Film bekannt. So schrieb er das Drehbuch zu Genre-Klassikern wie Tourneurs I Walked With A Zombie (dt.: Ich folgte einem Zombie, 1943), Waggners The Wolf Man (dt.: Der Wolfsmensch, 1941) oder Sears‘ Earth vs. the Flying Saucers (dt.: Fliegende Untertassen greifen an, 1956).
Edgar G. Ulmer war derjenige der Truppe, der sich zuerst in Amerika ansiedelte. Obwohl er zunächst immer wieder für Filmarbeiten nach Deutschland zurückkehrte (u.a. als Set Designer für Fritz Langs M), blieb er nach der Machtergreifung der Nazis drüben; seine Karriere als US-Filmregisseur begann 1933 mit dem Dokumentarfilm Mussolini Speaks. Heute ist er als Regisseur zahlreicher kultiger B-Filme ein Begriff, allen voran The Black Cat (dt.: Die schwarze Katze, 1934) mit Boris Karloff und Bela Lugosi.
Billy Wilders nächstes verfilmtes Drehbuch wurde zum UFA-Tonfilm Ein Burschenlied aus Heidelberg (D 1930, Regie: Karl Hartl). Vor Menschen am Sonntag verfilmte Ernst Laemmle bereits ein Wilder-Drehbuch, Der Teufelsreporter, das allerdings nichts mit dem späteren Klassiker Reporter des Satans gemein hatte.

Menschen am Sonntag ist hierzulande auf DVD, nicht jedoch auf Blu-ray erschienen.
Die amerikanische Reihe Criterion Collection hat den Film in restaurierter Fassung in einer sehr schön ausgestatteten Ausgabe sowohl auf DVD als auch auf Blu-ray herausgebracht.

>Auf youtube.com kann man den ganzen Film in HD-Fassung mit der Filmmusik von Elena Kats-Chernin ansehen.

Der klassische Film, anderswo gebloggt
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To Kill A Mockingbird (dt.: Wer die Nachtigall stört, USA 1962) gehört zu den Klassiker, die schon länger ganz oben auf meiner Liste stehen. Bianca von Duoscope stellt ihn und seine Geschichte detailliert vor und zeigt auf, weshalb er als Beispiel für die menschliche Moralentwicklung gelten kann.
The Glass Key (dt.: Der gläserne Schlüssel, USA 1942), ein früher film noir mit Alan Ladd und Veronika Lake, der kürzlich bei Koch Media erscheinen ist – in einer ausführlichen Besprechung von Ansgar Skulme auf Die Nacht der lebenden Texte.