Sarrazin hatte zuvor im Fachmagazin Tagesspiegel zu lesen geglaubt, dass „alle Juden ein bestimmtes Gen“ teilen. Nicht mal ganz falsch, stellt Müller-Jung nun glasklar. "Allein in den vergangenen Wochen sind drei wegweisende Studien in „Nature“, dem „American Journal of Human Genetics“ und den „Proceedings“ der amerikanischen Nationalakademie über die genetischen Wurzeln und Merkmale von Juden veröffentlicht worden", weiß er, was der normale FAZ-Leser nicht wissen kann, weil es die FAZ aus Gründen der Übersichtlichkeit nie geschrieben hat. Sarrazin sei aber wohl kein FAZ-Leser, er habe "diese wissenschaftlichen Erkenntnisse deshalb offenbar zur Kenntnis bekommen", kritisiert der Kritiker.
Aber "verstanden hat er sie nicht", ist sich der Gentechniker aus Frankfurt sicher. Denn man müsse nun ja genau unterscheiden, was die "New York Times" meinte, als sie in ihrem Bericht schrieb „die genetische Ähnlichkeit von Juden ist belegt“. Und was Sarrazin vermutlich habe sagen wollen, als er wissen ließ, dass alle Juden ein bestimmtes Gen teilen. "Zwischen beiden Aussagen - genetisch enge Verwandtschaft auf der einen Seite und ein Gen für alle Juden auf der anderen - liegt nicht weniger als die Kluft zwischen Wahrheit und Dichtung", dichtet Müller-Jung jetzt nach der alten Lehre, dass es nie darauf ankommt, was jemand gesagt oder gemeint hat. Sondern allein darauf, was man verstanden zu haben behauptet.
Hier kommt jetzt die Wahrheit, aus sorgsam gespaltenen Haaren extrahiert und in Sätze verdrillt, gegen die die Doppel-Helix eines Cottbusser Telekom-Mitarbeiters ein freihängendes Kupferkabel ist: Die Populationsgenetik finde "seit Jahrzehnten in bestimmten religiös oder kulturell bedingt isolierten Bevölkerungsgruppen häufig vorkommende Genvarianten", erläutert Müller-Jung zum Erstaunen des Publikums. Aber "dieselben Genvarianten sind keinesfalls exklusiv", sondern eben "allenfalls gehäuft bei einzelnen Ethnien zu finden".
Und nicht nur unter Menschen. Die teilen ihre Gene zum Beispiel zu 98,5 Prozent mit dem Affen, genauso aber auch mit Fröschen, wie Forscher um Uffe Hellsten von der University of California in Berkeley die Süddeutsche Zeitung erst im April hatten wissen lassen. Nach der erstmaligen vollständigen Entschlüsselung des Erbguts einer Amphibie stand fest: "Das Genom des Krallenfrosches Xenopus tropicalis entspricht in großen Teilen dem des Menschen".
Dass der Frosch trotzdem kein Mensch ist, liegt an dem, was ihm trotz der großen Teile identischer Gene fehlt. In der aktuellen Debatte ergebe sich daraus ein wichtiger Unterschied in der Betonung, so Müller-Jung, ehe er zu einem Trommelfeuer von Drechselsätzen ausholt, das endlich mal gequirlten Klartext spricht in der Gen-Debatte, die kurzzeitig in Stellvertretung der Islam-Debatte toben muss, weil deren Erregungspotential nach fünf bewusstlosen Tagen in der Geschwätz-Zentrifuge erschöpft zu sein scheint: "Der Befund, dass bei Juden viel häufiger als üblich gewisse Erbkrankheiten wie Morbus Gaucher oder Tay-Sachs auftreten, ist ein Ergebnis dieser starken genetischen Ähnlichkeit. Viele Gentests sind daraufhin entwickelt worden. Ebenso wie mittlerweile Herzmittel verkauft werden, die wegen der Häufung bestimmter Genvarianten bei Afro-Amerikanern als „maßgeschneidert“ für diese Menschen gelten, wohl wissend, dass dieselben Genvarianten keinesfalls exklusiv bei einzelnen Ethnien, sondern allenfalls gehäuft - jedoch nicht ausschließlich - zu finden sind."
Gehäuft, jedoch nicht ausschließlich, enthält der Mensch auch Froschgene. In vielen Juden hingegen können, ganz unabhängig von ihrem Glauben, ein oder mehrere Gene entdeckt werden, die gehäuft, aber nicht ausschließlich bei ihnen vorkommen. Dasselbe gilt für religiös oder kulturell bedingt isolierte Bevölkerungsgruppen wie den gemeinen Ex-DDR-Bürger, norwegische Leuchtturmwärterfamilien, altmärkische Kartoffelbauerkommunen und die jahrhundertealten Wohngemeinschaften katholischer Geistlicher mit ihren Zugehfrauen.
Sie alle - das ist nun sehr fragwürdig - tragen Gene in sich, die ebenso zu großen Teilen auch in Affen und Fröschen vorkommen. Dass weder Sarrazin noch Müller-Jung noch irgendein Jude, DDR-Bürger, Mönch oder Leuchtturmwärter weltweit ein Frosch ist, verdankt sich sowohl den Genen, die er hat, als auch denen, die er nicht hat. Den Rest machen Erziehung, Bildung und das frühkindliche Zusammensein mit anderen Menschen, wie die "Zeit" mahnt. Ältere Menchen wissen das auch noch, denn ihnen war der heute längst verdrängte Satz "Mensch, sei kein Frosch" einst noch geläufig.