Melvin

Von Traumperlentaucher

Ich hatte gerade einen wunderschönen Parasolpilz entdeckt, da stand er plötzlich da, mitten in der Lichtung. Ich hatte ihn nicht kommen sehen und auch nicht gehört.

„Schöne Pilze, viele schöne Pilze“, sagte er, und deutete auf die andere Seite der Lichtung. Dort hatte es einen ganzen Hexenring mit riesigen Parasolpilzen.

„Sie sind auch Sammler?“, fragte ich, etwas enttäuscht, meine Beute mit einem Unbekannten teilen zu müssen.

„Nein, ich bin Spaziergänger.“ Er sprach das Wort ganz langsam aus und betonte jede Silbe. Ein Verrückter mitten im Wald?

Ich bückte mich und drehte den Hut des Pilzes ab. Den Stiel ließ ich stehen, er war zu faserig. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er sich eine Zigarette ansteckte. Oder war es ein Joint? Ich wagte nicht, genauer hinzuschauen. Er machte keine Anstalten weiter zu gehen, sondern schaute mir zu, wie ich auf der anderen Seite der kleinen Lichtung die Pilze einsammelte.

„Möchtest du auch einen Zug?“

Ich schaute auf den Glimmstängel in seiner Hand, es war tatsächlich ein Joint, und überlegte mir, was ich tun sollte. Würde ich ihn mit einer Ablehnung verärgern? Andererseits konnten ein paar Züge nicht schaden. Ich hatte schon lange kein Gras mehr genossen.

Der Fremde setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm, ich setzte mich neben ihn.

„Ich habe Sie noch nie im Wald gesehen. Gehen Sie oft in dieser Gegend spazieren?“

Er reichte mir den Joint. „Ich bin neu hier, erst letzte Woche zugezogen.“ Das erklärte alles. Ich war beruhigt.

„Ich heiße Melvin, und du?“

„Anton.“ Ich hatte nichts dagegen andere Leute zu Duzen. Im Dorf war das üblich, zumindest unter den Gewöhnlichen. Nur die Großkopferten redete man mit Sie an und natürlich die Polizei, wenn sie sich mal zu und verirrte.

„Was tust du, wenn du keine Pilze sammelst?“ Das war eine schwierige Frage. Am liebsten hätte ich „Träumen“ gesagt.

„Allerlei, was gerade so ansteht. Ich bin pensioniert.“

„Pensioniert?“ staunte er. Du bist doch noch jung.“

„Du ja auch. Könntest in meinem Alter sein. Achtundsechziger?“

Er lächelte und nahm wieder einen tiefen Zug aus der Tüte. „Deine Augen täuschen dich, ich bin fünfunddreißig.“ Ich wäre beinahe vom Baumstamm gefallen. Er sah aus wie fünfundsechzig. Wirres, fast weißes Haar umrahmte ein verlebtes Gesicht mit dunklen Ringen um die Augen…Doch diese Augen. Sie zogen mich in ihren Bann. Sie waren hellbraun und hatte eine beinahe hypnotische Ausstrahlung.

„Du bist nicht schwul“, stellte er fest. Ich war indigniert und rückte unwillkürlich ein paar Zentimeter zur Seite. So viel Direktheit war mir doch etwas zuviel.

„Nein, ich stehe ausschließlich auf Frauen, auch wenn ich sie nicht verstehe.“ Ich versuchte ein Grinsen.

„Ich bin schwul“, sagte er.

„Und was machst du, wenn du nicht im Wald spazieren gehst?“, versuchte ich das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

„Ich beobachte“, sagte er, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. „Ich beobachte die Welt.“

Gerne hätte ich ihn gefragt, wieso und ob er wirklich nichts anderes tat. Notabene in seinem jungen Alter. Doch getraute ich mich nicht. Stattdessen sagte ich: „Ich liebe es auch, die Welt zu beobachten. Wir leben in einer sehr interessanten Zeit.“

„Die Zeiten waren immer interessant.“

„Aber früher passierte doch viel weniger.“

„Die Bäume würden dir etwas anderes erzählen.“

„Sprichst du mit ihnen?“

„Immer, ihre Stimmen sind immer da. Darum mag ich den Wald.

Das war meine erste Begegnung mit Melvin und ich hatte auf dem Weg nach Hause das Gefühl, es würde in Zukunft noch viele geben. Ich sollte mich nicht täuschen.

Euer Traumperlentaucher