Bei der Lektüre von Falladas Buch hatte ich paranoide Anfälle. Ich glaubte plötzlich, die Anhänger von Brecht, Benn und Thomas Mann hätten sich verschworen, um den größten deutschen Schriftsteller des Jahrhunderts, Hans Fallada, in den Hintergrund zu drängen. „Der Trinker“ ist in meinen Augen ein Meisterwerk, auch weil es von einem Trinker geschrieben ist, ohne dass es das geringste Merkmal einer Säufersuada enthält. Der Text enthält die wichtigste Spannung, die das Verhältnis von Literatur und Alkohol für alle Menschen bedeutsam macht: Im Laufe der Geschichte haben Philosophen und andere Leute aus der Vielfalt der Möglichkeiten herauskristallisert, wer oder was der Mensch ist. …
Über die Rolle des Alkohols im kreativen Prozess kann man Vermutungen anstellen, aber dass ihr der Trinker ein Thema ist, definiert die Literatur. Falladas Kunst, mit dem Thema fertig zu werden, ermöglicht ihm, an keiner Stelle das Trinkerselbstmitleid inklusive des einschlägigen Größenwahns zu propagieren. Fallada denunziert aber auch die Trinkerexistenz nicht, verkauft sie nicht an das Ideal vom souveränen Menschen, und doch ist es dieses Ideal, das im Text unterschwellig dabei ist. Diese wechselseitige Durchdringung der Souveränitätsutopie mit der Abhängigkeitsrealität zeigt die Trunksucht als Menschenmöglichkeit, weniger verächtlich, eher schon heilig, weil das Leid und die Verworfenheit ein gewichtiges Wort dabei mitzureden haben, wer oder was Menschen sind. / Franz Schuh, Die Presse 10.3.