Meinungsfreiheit und ihre Schranken am Beispiel des Gerichtsurteils gegen Renate Künast

Selten haben so viele Menschen in Deutschland ihre Meinung öffentlich gesagt wie in den letzten Monaten. Gleichzeitig glauben erschreckend viele, die Meinungsfreiheit sei in Gefahr. Das Problem ist vielleicht, dass für diese Menschen Meinungsfreiheit etwas anderes bedeutet als noch vor ein paar Jahren. Das gilt auch für Teile der deutschen Justiz, wie sich am Fall “Renate Künast” eindrucksvoll beweisen lässt.

Ende September 2019 rieb ich mir verwundert die Augen. Das landgericht Berlin hatte die Klage der Grünenpolitikerin Renate Künast abgewiesen, die sich gegen heftigste Beleidigungen im Netz wehren wollte und die Herausgabe der personenbezogenen Daten von 22 Personen forderte, um zivilrechtlich gegen sie vorgehen zu können. Die Begründung des Gerichts war für mich unfassbar. Äußerungen wie “Geisteskranke”, “Stück Scheiße” und “altes grünes Dreckschwein” stellten nach der Meinung der Richter “keine Diffamierung der person der Antragstellerin” dar. Der Berliner Morgenpost zufolge werden in dem Beschluss Äußerungen wie “Knatter sie doch mal so richtig durch, bis sie wieder normal wird” als “mit dem Stilmittel der Polemik geäußerte Kritik” gewertet. Die Unterstellung, dass Künast “vielleicht als Kind ein wenig zu viel gef…” wurde, sei laut Beschluss “überspitzt, aber nicht unzulässig”. Die Forderung, sie als “Sondermüll” zu entsorgen, habe “Sachbezug”. Ganz offensichtlich meint das Gericht, dass jede Meinungsäußerung zulässig ist, wenn sie im Zusammenhang mit einer auf eine konkrete Sache bezogenen Debatte stattfindet. Um das zu begreifen, muss man den Hintergrund der hasswelle gegen Renate Künast verstehen.

Im Mai 1986 debattierte das berliner Abgeordnetenhaus über häusliche Gewalt. Eine grüne Rednerin wurde von einem CDU-Hinterbänkler unterbrochen mit der Frage, wie sie zum kürzlich erfolgten Beschluss der Grünen in Nordrhein-Westfalen stehe, Sex mit Kindern zu
entkriminalisieren? Der Vollständigkeit halber rief Renate Künast dazwischen: “Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist.” Eindeutig hatte sie den Text, den der CDU-Abgeordnete kritisierte, lediglich
vervollständigen wollen. In einem Artikel der Welt am Sonntag aus dem Jahre 2015 wurde die Frage aufgeworfen, ob das nicht so klinge, als fände Renate Künast Sex mit Kindern okay, solange keine Gewalt im Spiel sei. Auch die Öffentlichkeit, so die berliner Richter nun, habe ihren Zwischenruf so wahrgenommen, was offenbar die Empörung erklären und die Beleidigungen rechtfertigen soll. Der rechte Internetaktivist Sven Liebich hatte im März diesen Welt-am-Sonntag-Artikel aufgegriffen, Künasts Zwischenruf zitiert und um den Zusatz: “dann ist Sex mit Kindern ja ganz okay” ergänzt. Daraufhin wurden die beanstandeten Beleidigungen auf Liebichs Facebook-Seite gepostet.

Zurück zur Frage der Meinungsfreiheit. Gerade rechte Aktivisten behaupten immer wieder, man dürfe in Deutschland seine Meinung nicht frei äußern. Das Gerichtsurteil gegen Renate Künast zeigt, dass man als rechter Troll überhaupt keinen einschränkungen unterliegt, wenn man Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, übelste Beschimpfungen und Beleidigungen ausspricht, solange sie sich nur gegen linke oder linksliberale Personen richten, und bitte vor allem gegen Frauen. Natürlich werden auch Männer beleidigt, aber bei Frauen läuft diese Beleidigung über die Abwertung ihres Körpers, die Drohung mit sexueller Gewalt, auch gegen ihre Kinder, und über die Verächtlichmachung ihrer Weiblichkeit. Gerade die Moralprediger, die Sex mit Kindern ablehnen, drohen mit der Vergewaltigung von Kindern Andersdenkender, wenn auch nicht in diesem speziellen Fall.

Wenn künftig jede Meinungsäußerung erlaubt ist, die in einem sogenannten Sachzusammenhang mit einer Debatte steht, dann ist künftig jede Beleidigung und Erniedrigung erlaubt, zumindest von rechts. Wie groß ist das Geschrei, wenn man hart gegen einen Rechtsextremen auftritt, wenn man gegen ihre Menschenverachtung protestiert oder demonstriert. Wie weit sind wir eigentlich wieder gekommen?

Dass ein Gericht die oben zitierten Äußerungen für sachliche Beiträge zu einer Meinungsdebatte hält, ist mehr als unfassbar. Vermutlich werden höhere Gerichte das Urteil aufheben, aber das ermöglicht Renate Künast noch nicht, gegen die Pöbler vorzugehen. Und der Schaden, den die Diskussionskultur in diesem Land erfahren hat, ist bis jetzt noch nicht abzusehen.

Meinungsfreiheit bedeutet nicht, alles sagen zu dürfen und keinen Widerspruch ernten zu müssen. Das wissen natürlich auch die Rechten, die verlangen, dass sie ihre Meinung offen sagen dürfen. Sie würden es aber selbst nie unterlassen, den Liberalen und Linken zu widersprechen. Meinungsfreiheit bedeutet ebensowenig, dass es erlaubt ist, andere Menschen zu beleidigen und zu diffamieren, sie seelisch in den Ruin zu treiben und seine krankhaften Gewalt-, Sex- und Mordfantasien an ihnen auszuleben. Meinungsfreiheit ist auch im Grundgesetz beschränkt, man lese den Artikel 5 einmal genau. Im Absatz 2 steht: “Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.” Natürlich muss immer eine Abwägung der Interessen erfolgen, das ist im Streitfall die Aufgabe der Gerichte. Keinesfalls kann aber eine derart grobe Diffamierung und Gewaltandrohung wie die Äußerungen auf der Facebook-Seite von Sven Liebich statthaft sein. Denn es fehlt eben gerade der Sachbezug. Eine solche Äußerung bringt nicht nur keinen Erkenntnisgewinn, sie ist kriminell und Sprengstoff für unsere Gesellschaft.

Vor allem sind es Millionen Frauen, die sich diesen unglaublichen Gewaltexzessen toxischer Männlichkeit ausgesetzt sehen. Die älteste Diskriminierung der Welt treibt wieder und wieder auf Höhepunkte zu, die wir in unserer zivilisierten Welt doch überwunden glaubten. Die grünen Politikerinnen Renate Künast und Claudia roth sind hier nur prominente Beispiele einer ständig größer werdenden Welle von Frauenhass, der unter dem Deckmantel größerer Meinungsfreiheit brodelt und schäumt.

Die Frage ist: Wie gehen wir mit dieser zunehmend auch offiziell gebilligten Gewalt um? Ich für meinen Teil habe ja nun wirklich glück. Ich bin ein Mann, weiß, heterosexuell und nur blind, daraus kann man nicht viel machen. Gut: Ich bin auch linker als die Trolle, aber vergessen wir das mal. Für mich in meiner immer noch privilegierten Position heißt es, dass ich den Hetzern widerspreche, wo sie bereits öffentlich geredet haben, und dass ich auf meinem Blog keine Hetze publizieren werde. Hier bestimme ich selbst, wo die Meinungsfreiheit ihre Grenzen hat. Und natürlich werde ich selbst auch nicht justiziabel beleidigen, sondern mir weiterhin die Freiheit zivilisierten Umgangs nehmen. Es ist alles, was ich tun kann.

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