Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat einmal mehr einen kleinen Makel ins Arbeitgeber-Paradis Deutschland geurteilt: Deutsche Gerichte hatten die fristlose Kündigung einer Altenpflegerin bestätigt, die wiederholt und vergeblich auf eklatante Missstände bei ihrem Arbeitgeber hingewiesen hatte. Dieses Urteil verletze die Menschenrechtskonvention befanden die Richter in Straßburg. Die deutschen Gerichte hätten versäumt, zwischen dem Interesse des Arbeitgebers und dem Recht auf freie Meinungsäußerung abzuwägen. Deutschland muss die Prozesskosten tragen und der mutigen Altenpflegerin 10.000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Ihren Job ist die Frau trotzdem los.
Was war passiert? Die Berlinerin Brigitte H. arbeitete in einem Altenpflegeheim der Vivantes Netzwerk GmbH. Bereits 2003 wies sie die Geschäftsleitung mehrfach auf die ständige Überlastung des Pflegepersonals hin. Hilflose, alte Menschen würden vernachlässigt, außerdem würden nicht erbrachte Leistungen abgerechnet. Dass zuerst am Personal gespart wird, wenn gespart werden muss, ist ja nicht neu, dass weniger Mitarbeiter möglichst mehr Umsatz und mehr Gewinn machen müssen, auch nicht. Dass eine der betroffenen Pflegekräfte dagegen aufmuckt, ist offenbar dennoch eine Ausnahme – die möglichst auch eine Ausnahme bleiben soll. Natürlich unternahm die Geschäftsleitung nichts. Zumindest nichts, was die hässliche Situation für Pflegekräfte und Pflegebedürftige verbessert hätte.
Allerdings stellte der Medizinische Dienst der Krankenkassen bei einem Kontrollbesuch die gleichen Mängel fest. Was aber auch nicht dazu führte, dass Vivantes Abhilfe schaffte. An der Überlastung des Personals und der Vernachlässigung der Patienten änderte sich nichts. Weshalb die Frau im Dezember 2004 Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber erstattete, wegen Betrugs. Schließlich müssten die Patienten bzw. deren Angehörige für Leitungen bezahlen, die sie nicht bekämen.
Als Vivantes von der Anzeige erfuhr, wurde Brigitte H. prompt gefeuert, sonst änderte sich nichts. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen gegen Vivantes bald ein. Die Gewerkschaft Verdi unterstützte die fristlos entlassene Pflegekraft vor Gericht, allerdings scheiterte die Klage. Das Bundesarbeitsgericht bestätigte die fristlose Kündigung als rechtmäßig, eine Verfassungsbeschwerde lehnte das Bundesverfassungsgericht ab. Daraufhin gingen Brigitte H. und Verdi nach Straßburg. Immerhin unterstützte auch die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler diesen Fall, Brigitte H. erhielt 2007 den Whistleblower-Preis.
Ermutigt durch das Urteil der Straßburger Richter will die Altenpflegerin nun eine Wiederaufnahme ihres Falles vor deutschen Arbeitsgerichten und ihre Rehabilitation durch den Berliner Senat erreichen. In der Urteilsbegründung des EGMR heißt es, dass die öffentlich gemachten Informationen über die Missstände „zweifellos von öffentlichem Interesse“ waren, zumal die davon Betroffenen selbst gar nicht darauf hinweisen konnten. Dieses Interesse sei sogar so wichtig, dass es dem Interesse des Unternehmens am Schutz seines Rufes überwiege.
Zwar entscheidet der EGMR immer nur über Einzelfälle, die nationalen Gerichte müssen die Urteile des EGMR allerdings bei ihrer Rechtsprechung beachten. Das bedeutet, dass die Politik hierzulande aufgefordert ist, die Rechte der Arbeitnehmer besser zu schützen, auf Missstände und Unregelmäßigkeiten bei ihren Arbeitgebern hinzuweisen. Trotzdem ist nicht davon auszugehen, dass sich Anzeigen und Klagen gegen windige Arbeitgeber nun häufen werden. Denn für die meisten Menschen wird es nach wie vor wichtiger sein, eine Arbeit zu behalten als recht zu bekommen.