Meinung am Sonntag | Wie primitiv sind wir eigentlich?

Es ist heiß. Schwitzende Körper reiben aneinander vorbei und bilden einen menschlichen Fluss, der in zwei Richtungen fließt, oder eher zähflüssig dahinplätschert. Enge und Körperwärme lassen die Individuen zu einem großen Ganzen verschmelzen. Die zwei Ströme pulsieren wie Arterien, mal schneller, mal langsamer, links und rechts eingeschlossen von Grenzen, die niemanden passieren lassen. Es geht nur vorwärts, nie zurück.

Der Lärm betäubt die Sinne noch weiter, die Luft wird knapp. Einmal in der Masse gefangen gibt es keinen Ausweg mehr, nur noch durchhalten. Noch wenige Meter geht es weiter, dann ein Engpass. Das Nadelöhr treibt alles auf die Spitze. Von überall her Berührungen, die man nicht verhindern kann. Fremde Nässe auf der Haut, fremde Gerüche in der Nase. So muss sich die Hölle anfühlen. Noch einmal die letzte Kraft zusammennehmen und weiterschwimmen. Dann, nach gefühlt endloser Qual bricht der Strom auseinander, die verschweißten Moleküle trennen sich wieder. Das Bewusstsein kehrt mit der Atemluft zurück.

So, oder so ähnlich, funktionieren die meisten Situationen, in denen eine hohe Anzahl von Menschen an einem Ort aufeinander trifft. Man organisiert sich unbewusst, irgendwie funktioniert das immer.
Menschen lieben ihre Volksfeste. Und Volksfeste sind ein Spiegel der Gesellschaft. Selten sieht man so grundverschiedene Menschen und Gruppen in (mehr oder weniger) harmonischer Gemeinschaft, wie auf Altstadtfesten, Jahrmärkten und co. Ein Besuch solch eines Volksfestes gleicht hin und wieder aber auch dem in einem Zoo: Die seltsamsten Gestalten und Kreaturen sind plötzlich zum Greifen nah und man merkt überhaupt erst, was es alles so gibt.

Ein aktuelles Beispiel, das sich aber problemlos auf nahezu jedes andere Volksfest übertragen lässt: Das 18. Internationale Bierfest in Berlin, welches an diesem Wochenende stattfindet. Der Name lässt schon erahnen, worum es hierbei geht. Auf der Website heißt es:

Annähernd 700.000 Besucher aus aller Welt werden sich mitten im Herzen von Berlin im „Längsten Biergarten der Welt“ treffen.
Auf 2,2 Kilometern werden die Besucher 340 Brauereien aus 87 Ländern, mit 2400 einmalig vertretenen Bieren, sowie 22 Bierregionen mit kulinarischen Spezialitäten und 20 Bühnen mit Live-Musik, mit nationalen und internationalen Künstlern, bei freiem Eintritt begeistern.

Das inoffizielle Motto lautet “Bier macht uns zu Freunden”. Na, wenn das mal so einfach wäre.

Da sind sie nun, die ungestüme Dorfjugend, die feierwütigen Rentner, die (oft zu) naiven Touristen, die trinkfesten Alt-Rocker, die JungesellInnen-Gruppen, Testosteron-Bolzen und die obligatorischen Pfandsammler und all die anderen seltsamen Gestalten. Schubladendenken macht hier besonders viel Spaß. Interessant ist es mit anzusehen, wie gestandene Frauen und Männer sich derart hemmungslos gehen lassen, als gäbe es kein Morgen mehr. Von den Jugendlichen ganz zu schweigen. Natürlich steigt proportional zum Alkoholkonsum die Aggression, das kennt man ja. Wenn auch tatsächliche Auseinandersetzungen selten vorkommen, mit fortschreitender Uhrzeit spürt man dennoch die elektrischen Spannungen in der Luft.

Das Publikum ist tatsächlich ein Querschnitt durch die Gesellschaft. Im doppelten Sinne, denn so unterschiedlich die soziale Herkunft ist, so durchschnittlich sind doch alle unter dem Einfluss des “güldenen Gerstensaftes”. Da wird der Anwalt genauso schnell zum Proleten wie der Fußball-Hooligan oder der Motorrad fahrende Frührentner. Im Falle des Bierfestes werden Frauen zügig zu Freiwild, vor allem die hinter den Tresen. Zugegeben, die Betreiber der beiden Zapf-Wagen mit den knapp bekleideten “sexy” Krankenschwestern und die dazugehörigen Schankdamen selbst wissen mit Sicherheit ziemlich genau, worauf sie sich da einlassen. Die müssen sich nicht wundern, wenn sie objektiviert werden.

Spaß machen kann sowas, na klar. Volksfeste, oder wie sie eigentlich besser heißen sollten, Gesellschaftsfeste, sind aber oft wie das vormittägliche Fernsehprogramm: stumpf. Wenn Volksfeste, dem Namen entsprechend, Feste des Volkes sind, warum feiern wir so oft so primitiv? So einfältig, sinnfrei und alkoholfixiert sind wir doch gar nicht! Oder doch?


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