Meine Liebsten in 2010: Kategorie Comics

Von Derdigitaleflaneur

 
2010 war ein grandioses Comicjahr, nach dem erwartbaren hymnischen Lobpreisungen der informierten Nerdöffentlichkeit schlug Waltz With Bashir auch im Mainstreamkosmos ein und hinterliess dort eine Marke, die hoffentlich  in Zukunft stilbildend sein wird. 
Aber auch der Webcomic erreichte mit FreakAngels und Zahras Paradise eine neue Qualität. Ellis setzt seine konsequente Linie weiter fort, welche er mit Transmetropolitan begonnen hatte. Damals trat das Autorenteam die Rechte nicht wie gewohnt an das Label ab und schuf damit die Grundlagen des umfassenden Besitzes am künstlerischen Werks auch bei Branchengiganten wie DC, welche man bislang nur von Autorencomics die bei kleineren (zumeist linken)  Verlagen verlegt wurden, kannte. 
Mit seinem neuen Comic, der zunächst als reiner Webcomic veröffentlicht wurde betritt er nun erneut verlegerisches Vertriebsneuland. Erfreulich!

Noch ein paar Tipps: Unwritten, Scalped und Sweet Tooth. [Alle Vertigo]

Zahras Paradise stelle ich in der folgenden Liste ausführlicher vor, wie auch bei den anderen Titeln der Selektion findet ihr ausführlichere Besprechung unter der Comicrubrik dieses Blogs. Nur vorweg ein, zwei Worte, ich hoffe, dass diese Form des gezeichneten Widerstands ebenso stilbildend werden wird wie Saccos Strich, denn die politische Wirksamkeit und Sprengkraft ist unübersehbar - make comics a threat again!
Die Liste erhebt verständlicherweise keinen Anspruch auf Vollständigkeit und fokussiert sich auch (bis auf eine Ausnahme) auf die Veröffentlichungen des deutschen Comicmarktes. 

Weitere Tipps: Rembetiko, Fräulein-Rühr-Mich-Nicht-An [beide Reprodukt]

Aus internationaler Perspektive wären aufgrund des phänomenalen Outputs des Labels gleich drei Vertigo-Titel chancenreiche Listenplatzanwärter. Freunde des anspruchsvollen Comics sollten: The Unwritten, Sweet Tooth und Scalped mal beschnupern. 
Und auch zwei Titel des Schönebergers Indiepowerhouse Reprodukt - namentlich Fräulein-Rühr-Mich-Nicht-An und Rembetiko - verdienen eiegntlich weitaus mehr als eine blosse Erwähnung. Aber ich hab mich entschlossen die Liste mit fünf Titel kurz & knackig zu halten, ich hoffe sie gefällt. 
Und beim wem sich jetzt ein dèja-vu-Gefühl einstellt, es sich nicht die Drogen oder das fette Essen, diese Liste war eine Gastautroenschaft bei den smarten Vögeln von visual-blog. Cheerz!
Winshluss – Pinocchio (avant-verlag)
Leider ist der auf dem Comicsalon in Erlangen und in Angouleme, dem wichtigsten Comicfestival Europas ausgezeichnete Comic gegenwärtig vergriffen, aber aus verlässlicher Quelle habe ich erfahren, dass im Februar eine Neuauflage geplant ist. Habt Geduld, denn dieser Comic ist ein phantastisches Werk!
Winshluss hat seine ersten Spuren hinterlassen, als er die unglaublich elegante Trickfilmadaption von Satrapis Persepolis betreute. Mit dem hier gemachten Sprung hat aber sicherlich keiner gerechnet. Sein Pinocchio ist wütend, bösartig, brutal und hemmungslos kinderbuchfern. 
Hier treffen die verschiedensten Zeichnerschulen zusammen, Crumbs Strich und Spiegelmanns Schraffuren bilden Allianzen und kein Fetzen Disney weit und breit. Der thematische Parforceritt, der keinen Wahnsinn des letzten Jahrhunderts auslässt, sei es die sexuelle Ausbeutung von Kindern, Faschismus oder die konsequente Verschmutzung der Umwelt, hier finden wir alles – in stummen Bildern.
Denn, dieser pantomimische Comic kommt (bis auf wenige Ausnahmen in der Nebenhandlung mit Jimmy Cricket) völlig ohne Worte aus und überzeugt! Auch das Format 29 x 21,4 cm lässt ihn eher wie einen antiken Folianten wirken. Leider ist diese Empfehlung pünktlich zum Fest vergriffen.
Amir&Khalil: Zahras Paradise
Der nächste Titel ist bislang nicht als haptisches Medium zu haben, muss aber trotzdem erwähnt werden. Zwei exiliranischen Zeichner/Texter, die unter dem Pseudonym Amil&Khalil firmieren liefern einen bitteren, unversöhnlichen Abgesang ab auf die islamische Republik Iran unter der gegenwärtigen Regierung.
Dieser Webcomic weist eine Besonderheit auf, die visuell nicht aufschreckend genug unterstrichen werden kann – er ist ein Echtzeitcomic, ein gezeichnetes Zeitdokument, welches die aktuellen Verheerungen der iranischen Politik offen legt. Inzwischen hat sich mit Knesebeck auch ein deutscher Verlag gefunden, welcher den digitalen Comic zum einen übersetzt hat, aber auch bald in Buchform verlegen möchte. Ich bitte alle eindringlich mal einen Blick auf die Website zu werfen, dieser Comic ist hochpolitisch, brandaktuell und verdammt relevant!Brubaker / Phillips: Incognito (Vertigo)


Prügelnde Supermutanten irgendwer oder telepathische Überschurken von jamesbond`sker Klasse? Ja, dann seid ihr beide der Pulptributsause „Incognito“ goldrichtig. Die beiden Traumpartner Brubaker und Phillips liefern hier eine Zitathuberei der Extraklasse und ihnen gelingt ein eleganter Spagat zwischen ironische Hommage und liebevoller Würdigung eines verfemten Genres. Jeder nur vorstellbare Schurke gibt hier sein Stelldichein, aber wer jetzt trashiges Popcorngekritzel erwartet, der liegt vollkommen falsch.
Der Protagonist des Comics Zack Overkill (sic!) ist eigentlich einer der Bösen, er überfiel in seiner unsteten Mutantenadoleszenz gerne mal Banken oder Hochsicherheitszonen, heute vegetiert er als medikamentös sedierter Bürohelferling sein Dasein – Zeugenschutzprogramme machen solche Karriereknicks möglich.Aber die beiden wäre nicht dieses Traumpaar, wenn hier nicht mit großem Vergnügen Genrekonventionen gestürzt würden. Zack entdeckt in seiner Eintönigkeit ein weiches, rauchbares Rauschmittel für sich. Dieser Konsum führt zur Absenkung des Sedierungsniveaus und plötzlich besitzt er wieder Superkräfte. Diese nutzt er aber nicht für erneute Brüche, sondern errettet in Form eines abgebrühteren Batmans Personen aus der Not – er wird zum Vigilant oder zum Paulus – je nach Deutung.
Währenddessen überlegt sein ehemaliger Boss Black Death laut in den Gedankenplaudereien mit seinem ebenfalls telepathiebegabten Anwalt wie man nun Overkill (der als Kronzeuge gegen das Syndikat aussagen soll) formvollendet um die Ecke bringen kann. Wundervoll doppelbödige Veranstaltung für alle Superheldenfreunde und deren befreundeten Genrefeinden.
Jason – Werewolves Of Montpellier (Fantagraphics)

Ein Norweger, der in Frankreich lebt und stets auf Englisch publiziert. Seltsam, richtig. Aber vieles an Jason ist hinreißend anders, etwa sein lakonischer Humor, der reduzierte, eingedampfte Zeichenstil seiner Tierchen, alles perfekt, wenn man die Gunst der Entschleunigung zu würdigen weiß.
Seine Storyboards sind immer herrlich verdreht und auch hier sprüht er wieder einmal vor Irrsinn. Ein junger Mann bricht – verkleidet als Werwolf in Wohnung in Montpellier ein, wird dort vom örtlichen Werwolfkomitee als störend wahrgenommen und verwarnt – so weit so wirr.
Aber Jason wäre nicht Jason, wenn seine Story nicht noch eine weitere Drift erhalten würde und so verliebt sich der Werwolfmime zunehmend in seine Nachbarin, die aber glücklich in einer Beziehung mit einer anderen Frau steckt – eine Liebe die nicht sein darf. Vielleicht die schönste Liebesgeschichte, di eich seit langem gelesen habe, weil Jason auf sämtliche Plüschigkeit verzichtet und grandios beobachtet. Langsam und formschön – eben Jason.Dorison&Lauffray: Long John Silver (Carlsen)
Ein Comic zum hineinlegen! Elegant, fesselnd und niemals vorhersehbar. Was zunächst an eine schlichte Hommage an Abenteuerromane in der Tradition von Stevensons Schatzinsel erinnert, entwickelt sich zunehmend zu einer Reise ins Herz der Finsternis an Bord eines gekaperten Schiffs. Die autoethnologischen Beobachtungen der Besatzung lassen viele Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Formierung der viktorianischen Gesellschaft zu, aber hier langweilt keiner mit akademischer Ödnis.
Nein, diese soziologischen Miniaturen sind eingebunden in ein wundervolles Szenario, welches spannend erzählt und augenschmeichlerisch illustriert ist – irgendwo zwischen Malerei und Comic. Und nein, hier wird niemand nach dem Aufschlagen des Covers enttäuscht, denn das visuelle Versprechen des Titelbilds wird konsequent eingelöst. Klug, scharf beobachtet, raffiniert erzählt und grandios bebildert – Comicherz, was willst du mehr?