Meine Kinder sind besonders sensibel. Hochsensibel, um genau zu sein. Eine Erkenntnis, die mich zumindest bei einem meiner Kinder überraschend traf. Doch warum überraschte mich das eigentlich so sehr? Weil er das komplette Gegenteil von mir ist? Laut, offen, impulsiv, voller Energie? Das trifft zwar zu, doch wenn ich einige seiner Eigenschaften genau beobachte, sieht die Sache schon ein wenig anders aus. Wir könnten unterschiedlicher nicht sein und doch frage ich mich: Ist es nicht vielmehr so, dass er mir in vielen Dingen sogar sehr ähnlich ist? Könnte es daran liegen, dass ich die gleiche Veranlagung habe, nur in anderer Art und Weise ausgeprägt?
Um mein Kind besser zu verstehen, las ich das Buch Das hochsensible Kind (*) – und zu meinem Erstaunen fand ich mich selbst darin wieder. Mein jüngeres Ich. Plötzlich fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt, in der mir nachgesagt wurde, dass ich einfach nur schüchtern und zu nah am Wasser gebaut war. Doch heute weiß ich, dass viel mehr dahintersteckte. Hochsensiblität war damals überhaupt kein Thema. Niemand sprach über diese Veranlagung. Und trotzdem war sie da.
Hochsensiblität – Wie fühlt sich das an?
Tatsächlich war es so, dass ich Fremden gegenüber in der Regel sehr verhalten war – und auch heute teilweise noch bin. Ich hielt mich lieber zurück und beobachtete neue Situationen erst einmal in Ruhe. Vor allem in größeren Gruppen fühlte ich mich immer schon extrem gehemmt. Doch ich habe feine Antennen für die Stimmungen anderer Menschen, spüre auch schnell, ob das was sie sagen mit ihrer tatsächlichen Gefühlslage überstimmt.
Auch hatte ich schnell das Gefühl, etwas falsch zu machen. Beispielsweise erinnere ich mich an folgende Situation: Ich war vielleicht acht oder neun Jahre alt und befand mich mit meiner Familie in einem Stadion. Ich wollte zur Toilette gehen und blieb jedoch kurz im Treppenaufgang stehen und schaute mich um. Von einem Ordner wurde ich dann gebeten, dort nicht stehen zu bleiben. Er hatte mich nett und freundlich zum Weitergehen aufgefordert und trotzdem bin ich heulend weggelaufen und hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich glaubte, etwas falsch gemacht zu haben. Doch nicht nur in solchen Situationen flossen schnell die Tränen. Grundsätzlich bin ich ziemlich nah am Wasser gebaut, wie man das so schön sagt. Weint jemand, passiert es häufig, dass ich ebenfalls weine, weil mich das Leid oder auch die Freude anderer einfach mitreißt. Ich weine bei emotionaler Musik, bei Filmen, bei Nachrichten, wenn irgendein wenn Unrecht geschieht, wenn ich besonders stolz auf meine Kinder bin. Manchmal auch vor Wut oder Überforderung. Tatsächlich glaube ich immer mehr zu fühlen, als manch anderer es tut.
Von allem ein bisschen mehr
Wenn zu viel auf einen einströmt: Lärm, Dauergeräusche, grelles Licht, unangenehme Gerüche, Druck und Reibung auf der Haut, zum Beispiel durch Kleidung – Dinge, die nur schwer auszublenden sind.
Was bei meinen Kindern oft Thema ist, betrifft tatsächlich auch mich in machen Situationen: Reizüberflutung. Menschenansammlungen, Gedränge, Stimmengewirr, werden mir schnell zu viel, lieber befinde ich mich an ruhigen Orten. Am liebsten bin ich dort, wo sonst keiner ist. Das trifft zwar nicht auf alle Situationen zu, zum Beispiel besuche ich gern Konzerte, doch das ist eher die Ausnahme. Das ist einer der Gründe, weshalb mir davor graut, in den Sommerferien zu verreisen. Wie soll man entspannen, wenn alles überlaufen ist? Wie soll man bei einem Waldspaziergang die heilsame Wirkung der Natur verspüren, wenn es dort nur so von anderen Leuten wimmelt?
Auch wenn es dauerhaft zu laut ist, sei es, weil die Kinder permanent streiten oder einer von beiden in einer Wutschleife gefangen ist und lang und laut schreit, ohne auf Beruhigungsversuche zu reagieren, zerrt das sehr an meinen Nerven. Mein Bedürfnis nach Ruhe steigt dann ins Unermessliche und wird verschlimmert von der Tatsache, dass diese Situation in der Regel nicht ohne weiteres zu lösen ist.
Doch auch andere Geräusche können mich schnell in den Wahnsinn treiben. Ist Euch schon einmal das permanente Gepiepse bei McDonald’s aufgefallen? Würde ich dort arbeiten, würde ich auf kurz oder lang durchdrehen. Es gelingt mir nicht, so etwas einfach ausblenden, so sehr ich mich auch darum bemühe.
Ebenso wie einige Gerüche. Die Frikadelle, die mein Mann Samstags Morgens beim Metzger mitbringt und nach deren Aufschneiden ich den ganzen Tag glaube, das komplette Haus würde danach riechen, um nur ein Beispiel zu nennen.
Ich bin gern mit mir allein, um meiner Fantasie freien Lauf lassen zu können, oder Träumen hinterherzuhängen. Mein Kopf arbeitet permanent und es ist mir unmöglich, das Denken abzuschalten. Dinge, die mich belasten, beschäftigen mich ununterbrochen. Aber auch neue Ideen arbeiten andauernd in mir, die ich dann kreativ herauslasse, indem ich sie in Geschichten umwandle und aufschreibe. Oft genug lassen meine Gedanken mich nicht schlafen. Wenn sich das Gedankenkarussell einmal dreht, ist es nur schwer wieder zum Stillstand zu bringen.
Segen und Fluch zugleich
Das sind nur einige Punkte, die mich zu der Erkenntnis brachten, dass ich – ebenso wie meine Kinder – hochsensibel veranlagt bin. Es ist dieses „immer ein bisschen mehr von allem“ spüren, empfänglicher zu sein für äußere und innere Reize und dadurch auch schneller an seine Grenzen zu kommen. Doch schiebt man die negativen Aspekte einmal beiseite, bleibt auch viel Gutes übrig: Die Gabe, jedes Detail wahrzunehmen, stark ausgeprägte Intuition, vorausschauendes Denken, außergewöhnliches Einfühlungsvermögen, ein hohes Maß an Kreativität.
Bist auch Du hochsensibel?
Wenn Du Dich das fragst, könntest Du diesen Test durchführen, der sicherlich nicht zu hundert Prozent genau ist, aber Dir erste Hinweise geben kann. Im Netz finden sich jede Menge weitere Informationen zum Thema Hochsensiblität, oder Ihr lest Sind Sie hochsensibel? von Elaine Aron (*).