Mein zweites Leben begann als ich meine Verletzlichkeit zähneknirschend akzeptieren musste.

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Um das zu begreifen musste ich ziemlich alt werden.

Den ersten Hinweis, dass ich auch mal älter werden könnte, verdanke ich meinem Augenarzt.

So um die Vierzig herum suchte ich ihn auf, weil etwas mit meinem Sehen nicht stimmte. Ich wusste nicht genau, was es war und hoffte auf ein paar Augentropfen von ihm, die mein ursprüngliches Sehen wiederherstellen würden. Stattdessen sagte er: „Ihr Sehproblem ist ganz einfach. Sie brauchen eine Lesebrille!“

Einigermaßen verwirrt (ICH? EINE LESEBRILLE?) fragte ich: „Warum brauche ich jetzt schon eine Lesebrille?“ Und er sagte den verhängnisvollen Satz, der mich seitdem durch mein Leben begleitet: „Das ist eine Alterserscheinung, also völlig normal.“

Dieser Satz begleitet oder besser gesagt verfolgt mich seitdem. Denn natürlich blieb es nicht die einzige Alterserscheinung. So um die Sechzig verabschiedete sich mein Geruchssinn, was mir lange Zeit nicht auffiel. Das ist auf öffentlichen Toiletten ganz praktisch aber beim Kochen und Essen weniger. Auch mein Hörvermögen ließ nach, vor allem in der Weise, dass es mich anstrengt, auf Parties einem Gespräch zu folgen. Etliche Zähne verabschiedeten sich. Das war alles nicht angenehm, warf mich aber nicht um.

Doch als ich im Sommer 2016 mich einer großen Operation unterziehen musste, wurde es ernst.

Ich hatte Glück gehabt, weil ich alle notwendigen Vorsorgeuntersuchungen machen lasse. In den Monaten danach kämpfte ich sehr damit, was ich nicht länger verdrängen konnte: Dass auch mein Leben endlich war und ich irgendwann in den „nächsten“ Jahren – vielleicht aber auch schon morgen – sterben würde.

Dadurch, dass mich diese Erkenntnis so umhaute, merkte ich erst, dass ich offensichtlich zuvor vom Gegenteil ausgegangen war. Und alles in mir rebellierte:

Das kann nicht sein!
Ich will mindestens hundert Jahre alt werden. Mindestens! So wie Johannes Heesters, der noch mit über hundert Jahren eine schöne Stimme hatte und auftrat.
Und warum soll ich nicht hundert werden?
Ich lebe doch so, wie die meisten Gesundheitsempfehlungen für ein langes Leben vorschreiben: Ernähre mich sehr bewusst. Habe nie geraucht. Treibe regelmäßig aber nicht übertrieben Sport. Bin glücklich verheiratet, habe zwei tolle Kinder. Arbeite trotz Überschreiten der Pensionsgrenze noch voll in meinem Lieblingsberuf.
Mit anderen Worten: Ich habe doch alles richtig gemacht!

Nur – die Krankheit kümmerte sich einen Dreck um meine angesammelten Karma-Punkte und machte mir deutlich: Auch Du wirst älter und bist sterblich. Punkt.

Daran hatte ich lange zu kauen und tue es immer noch. Mit wurde klar, dass aus völlig narzisstischer Selbstüberschätzung ich zwar rational wusste, dass wir alle sterblich sind – emotional aber dachte: Aber ich doch nicht! Jedenfalls jetzt noch nicht.

Die schmerzliche und anstrengende Auseinandersetzung mit meiner jahrzehntelangen Verdrängungsleistung brachte mich zu wichtigen Fragen:

  • Warum wollen viele Menschen immer noch perfekter werden?
  • Warum wirkt es cool, unverwundbar zu erscheinen?
  • Wie viel Kontrolle haben wir wirklich über uns selbst und unser Leben?
  • Warum haben wir Angst zu zeigen, dass wir ganz normal sind?
  • Warum muss so vieles im Leben außergewöhnlich sein?

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Der Schlüssel ist die eigene Verletzlichkeit.

Bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen stieß ich auf die Arbeiten von Brené Brown. In ihren Studien über Scham und Verletzlichkeit befragte sie Hunderte Menschen zu ihren Gefühlen. Sie wollte herausfinden, was jene, die durchweg glücklicher und zufrieden mit ihrem Leben waren, anders machten als jene, die immer wieder mit ihrem Leben haderten.

Ihr erstaunlichstes Ergebnis war:

Jene Menschen, die ein besonders erfülltes Leben führten, versuchten vor allem, nicht immer perfekt sein zu müssen, um geliebt zu werden. Sie hatten sich mit der Zeit damit angefreundet, dass sie verletzlich, weil nicht perfekt, waren – und vor allem, sie konnten das zeigen.
Dabei ist Verletzlichkeit für diese Menschen wohl genau unangenehm wie für andere. Aber sie wird eben nicht als etwas absolut Unerträgliches erlebt, das man auf alle Fälle vermeiden müsste.
Stattdessen sehen diese Menschen Verletzlichkeit einfach als einen  normalen und notwendigen Bestandteil des Lebens an. Und sind aber auch davon überzeugt, dass das, weshalb sie sich verletzlich fühlen, letztendlich auch das ist, was sie als Mensch schön und wertvoll macht.

Hmm, von dieser weisen Einsicht bin ich noch ein ziemliches Stück entfernt.

Die meisten Menschen – Männer insbesonders – wurden ja auch dazu erzogen und angehalten, ihre Verletzlichkeit zu leugnen oder zu verbergen, weil es eine der größten männlichen Ängste ist, schwach zu wirken. Doch vielen Frauen geht es mittlerweile ähnlich, weil das moderne Frauenbild verlangt, dass man unabhängig, eigenständig und tough wirken muss. Sich verletzlich zu zeigen, passt hier genauso wenig zum angestrebten Selbstbild.

Für unsere Verletzlichkeit schämen wir uns oft.

Dr. Brown erforschte als Professorin an der University of Houston zuerst die Scham als eines unserer grundlegenden Gefühle. Sie wollte wissen, wie Menschen Scham erleben und damit umgehen. Meistens reden wir ja nicht über dieses peinliche Gefühl und versuchen, die Scham vor anderen und oft auch vor uns selbst zu verstecken. Denn mit dem Schämen verbinden wir, dass wir klein, fehlerhaft und niemals gut genug sind.

Über Dinge, die wir peinlich finden, redet man ja nicht gerne. Aber das hält die Scham lebendig. Deshalb ist es hilfreich, über schambesetzte Dinge mit geeigneten Menschen zu sprechen. Denn Empathie reduziert Scham. Wenn Sie jemanden anrufen und ihm mitteilen, dass Sie vor dem Vortrag, den Sie morgen halten sollen, die Hosen voll haben, machen Sie sich verletzlich. Denn Sie wissen nicht sicher, wie der Andere reagiert. Erleben Sie eine verständnisvolle Reaktion, wird sich Ihre Scham jedoch in Luft auflösen. Über peinliche Gefühle zu sprechen ist also das beste Mittel, um das Monster der Scham zu zähmen. Aber wie gesagt: es kommt sehr darauf an, mit wem man darüber spricht.

Wenn wir unsere Scham zeigen, machen wir uns verletzlich.  Diese Verletzlichkeit zu akzeptieren ist das Gegengift zu Scham. Brené Brown schreibt:

„Scham ist im Wesentlichen die Angst, mit all unseren Schwächen und Fehlern nicht liebenswert zu sein – sie ist das absolute Gegenteil davon, unsere Geschichte anzuerkennen und uns als wertvoll zu empfinden.“

Beschämung kann man also als Angst vor Abgetrenntheit, vor Beziehungsverlust verstehen. Wir befürchten, dass es es irgendwas an uns geben könnte, das, wenn es andere Leute mitkriegen, die Beziehung trüben oder beenden könnte, weil sich herausstellt, dass wir der Beziehung nicht mehr würdig sind.


Wie wir vieles im Leben verpassen.

Wenn wir mit uns selbst nicht zufrieden sind, glauben wir, dass wir immer wieder etwas Besonderes sein oder tun müssen.

Wir sind auf der Jagd nach dem Außergewöhnlichen. Und schämen uns schnell, wenn wir nach unserer Meinung nur Mittelmaß oder normal sind. Doch genau dieses Streben nach dem Außergewöhnlichen ist der Versuch, unverwundbar zu werden.

Brené Brown beschreibt in ihren Büchern, dass Verletzlichkeit der Schlüssel zu allem, von dem wir mehr wollen: Freude, Intimität, Liebe, das Gefühl von Zugehörigkeit, Vertrauen. Gleichzeitig sind wir aber oft nicht bereit, die Rüstung abzulegen und zu zeigen, wer wir wirklich sind, unsere Ängste und Träume, weil wir fürchten, man könne all das als Munition gegen uns verwenden.

Sich verletzlich zu zeigen, heißt auch, sich mit der eigenen Abhängigkeit zu befreunden.

Doch Abhängigkeit hat in unserer Gesellschaft keinen guten Ruf. Nicht umsonst gibt es den Begriff der Abhängigkeitserkrankungen. Unabhängigkeit , also das Streben nach Autonomie, Selbständigkeit und Selbstbestimmung gelten oft als viel positiver. Bis hin zu den Anhängern des Minimalismus, die sich rühmen, fast nichts mehr zu brauchen – bis auf den Drang, sich von möglichst vielem loszusagen.


Wie kann man seine Verletzlichkeit zeigen?

In den 10 Kapiteln ihres Buches“Die Gaben der Unvollkommenheit“ beschreibt die Autorin den Weg, Verletzlichkeit mehr in Ihr Leben zu integrieren:

  • Es beginnt damit, sich schrittweise von dem zu befreien, was andere über Sie denken.
  • Dann geht es darum, dem Perfektionismus zu entkommen.
  • Sich von dem starken Bedürfnis nach Sicherheit freizumachen, gehört dazu.
  • Die Gewohnheit aufzugeben, alles und jedes zu vergleichen, ist ein wichtiger Schritt.
  • Drohende Erschöpfung und Burnout sollten keine Statussymbole sein, sondern Alarmzeichen.
  • Wer seinen Selbstwert über Leistung erreichen will, will sich vor Liebesverlust schützen.
  • Für viele Menschen sind Angst und Sorge eine Lebenshaltung, mit der sie sich vor Unsicherheit schützen wollen.
  • Der Wunsch nach Cool-Sein und Kontrollsucht sind Mittel, sich unverwundbar machen zu wollen.
  • Ziel ist es, den Mut zu entwickeln, frei zu sagen was einem am Herzen liegt, also: aus vollem Herzen zu leben.

Brené Brown ermutigt in erfrischender und liebevoller Art, sich mit seinen Unzulänglichkeiten auszusöhnen und dann voll auf das Leben einzulassen. Ein Leben aus vollem Herzen bedeutet für die Wissenschaftlerin ein Leben voller Freude, Verbundenheit und Sinn. Wir sollten nicht danach streben, perfekt zu sein und es allen recht zu machen. Wir sollten den nötigen Mut zeigen, Schwäche zuzugeben und dabei authentisch zu bleiben.

Wie fühlt man sich geliebt und zugehörig?

In ihrer Forschungsarbeit fand Brené Brown heraus, was der wesentliche Unterschied ist zu Menschen, die sich ungeliebt und nicht mit anderen Menschen verbunden fühlen:

Leute, die ein starkes Gefühl der Liebe und Zugehörigkeit haben,
glauben, dass sie der Liebe und Zugehörigkeit würdig sind.

Wie erreicht man das?
Sicher nicht, indem man sich anstrengt, Übermenschliches zu leisten oder es allen Recht zu machen. Stattdessen hatten diese Menschen den Mut, unvollkommen zu sein. Sie waren vor allem erst mal liebenswürdig zu sich selbst – und erst dann zu anderen. Denn Mitgefühl mit anderen Menschen können wir erst entwickeln, wenn wir auch uns selbst liebevoll behandeln.

Und vor allem riskierten sie, das loszulassen, wer sie dachten sein zu müssen um zu sein, wer sie sind. Sie riskierten bewusst, verletzlich zu sein. Sie glaubten, dass das, was sie verwundbar machte, sie menschlich und anziehend machte. Sie waren bereit, etwas zu tun, bei dem es keine Garantien gibt, dass es gut ausgeht. Sie waren bereit, in eine Beziehung zu investieren, die vielleicht glückt – oder aber auch nicht.

Das kann heißen:

  • Jemandem zu erzählen, dass er einem sehr am Herzen liegt;
  • In einer Beziehung zuerst zu sagen, „Ich liebe dich“.
  • Nach einigen Jahren Partnerschaft einen Heiratsantrag zu machen.
  • Zu zeigen, dass man Sex mit dem Partner möchte.
  • Zu zeigen, dass man heute keine Lust auf Sex hat.
  • Der Verkäuferin zu sagen, dass man ihren Ton unfreundlich findet.
  • Einen Kollegen zu bitten, einen Kaffee mitzubringen.
  • Einer Freundin eine Bitte abzuschlagen, obwohl man Zeit hätte.
  • Wenn ich ehrlich kommuniziere, wie es mir geht.
  • Wenn ich sage, wenn mich etwas stört.
  • Wenn ich zu meinen Ängsten und Unsicherheiten stehe.
  • Wenn ich meine tiefsten Bedürfnisse und Wünsche kommuniziere.

Verletzlichkeit hat zwei Gesichter.

Es ist einerseits der Kern von Beschämung und Angst und unserem Kampf, etwas wert zu sein. Aber es ist auch die Quelle von Freude, von Kreativität, von Zugehörigkeit, von Liebe.

Das allerwichtigste in diesem Prozess ist: daran zu glauben, dass wir genug sind. Denn wenn wir von einem Punkt ausgehen, der, sagt: „Ich bin gut genug“ dann hören wir auf zu schreien und beginnen zuzuhören, sind liebevoller und freundlicher zu den Menschen um uns herum, und sind liebevoller und freundlicher zu uns selbst.

Das ist nicht einfach, denn heute herrscht fast überall das Dogma des Mangels. Obwohl wir in den westlichen Ländern im Überfluss leben, sind wir überzeugt: Es ist nie genug:

  • Wir sind nicht genug.
  • Wir sind nicht sicher genug.
  • Wir sind nicht perfekt genug.
  • Wir sind nicht außergewöhnlich genug.

Kurz gesagt: Wir dürfen nicht einfach normal sein. Denn mittlerweile gilt ein normales Leben oft als langweilig. Und vor lauter Jagen nach dem neuesten Hit, dem coolsten Gadget, dem angesagtesten Produkt verpassen wir vielleicht, was wirklich wichtig ist. Weil wir auf der Jagd nach dem Außergewöhnlichen sind.

Aber das Außergewöhnliche wird auch schnell gewöhnlich.

Das neueste iPhone, dessen Auspacken wie eine Entjungferung zelebriert, gefilmt und dann noch hochgeladen wird, ist spätestens nach drei Wochen auch nur noch ein Handy wie hundert andere auch. Nicht umsonst antworten Prominenten manchmal, wenn Sie gefragt werden, was ihnen durch das Berühmtsein verloren ging, sowas wie: „Dass ich samstags nicht mehr mit meiner Freundin einen Einkaufsbummel machen und hinterher ungestört was essen gehen kann.“

Im Außergewöhnlichen liegt der Kick. In den gewöhnlichen Momenten liegt die Freude.

Hier ein beeindruckendes Video mit Brené Brown.
Wenn sie unten rechts im Video auf das Symbol mit den drei Punkten klicken, können Sie die deutschen Untertitel einblenden.

Wie befreundet man sich mit der eigenen Verletzlichkeit?

Dazu fand Brené Brown durch ihre Studien das heraus, was Buddhisten schon lange wissen und propagieren:
Der Schlüssel ist Dankbarkeit.

Und das probiere ich jetzt auch verstärkt wieder. Im Getriebe des Alltags halte ich an und bin dankbar für das, was ich alles habe. Vor allem für die gewöhnlichen Dinge des Lebens:

  • Dass aus der Leitung immer Wasser kommt, das man bedenkenlos trinken kann.
  • Dass ich ohne Atemmaske auf die Strasse gehen kann.
  • Dass ich ein Dach über dem Kopf habe und die nächste Mahlzeit schon im Kühlschrank steht.
  • Dass ich zwar ein paar gesundheitliche Einschränkungen habe aber immer noch laufen, sprechen, sehen und hören kann.
  • Dass ich in meinem Beruf etlichen Menschen geholfen habe.
  • Dass ich geliebt werde und selbst lieben kann.
  • Dass ich diesen Beitrag schreibe und ihn etliche Leute lesen werden.
  • Dass ich selbst mit 68 Jahren noch etwas Entscheidendes über mich lernen konnte.

Mit dem Schreiben dieses Artikels mache ich mich auch verletzlich.

Denn ich übe, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich älter werde. Dass mich dabei einige unschöne Begleiterscheinungen plagen Und dass ich sterben werde. Kurz gesagt, dass das Leben bei mir keine Ausnahme machen wird.

Das finde ich zwar zwischendrin immer noch eine Frechheit – aber ich lerne, damit zu leben.
Zähneknirschend.

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