Mein Selbstversuch oder: warum ist der Hype ums Fasten so fett?

Sieben Tage im Gebirgssanatorium „Tannerhof“ klingt für mich ein bisschen wie Tante-Heidis-Kneipp-Kur aber ich wollte mal die Faszination des Fastens kennenlernen. Schließlich scheint es grad nur drei Smalltalk-Themen zu geben: Fasten, intermittierendes Fasten und Polyamory. Da ich für Letzteres nicht zu haben bin, wollte ich zumindest einen der Gesellschaftstrends mal ausprobieren. Also braves Fasten in der beschaulichen Bergwelt um Bayrisch Zell.

Mein Platz an der Sonne. Hier bin ich schon über den "Berg" und bin im Fasten-Rausch. Das Hanseaten Hemd gibt es übrigens demnächst bei SoSUE!

Die uransässige und wohlgerühmte Herzlichkeit der Einheimischen empfängt mich bereits an der Rezeption: „so früh (12:30Uhr haben wir noch nicht mit Ihnen gerechnete – unsere Gäste kommen immer so um 14 Uhr an, erst dann sind die Zimmer fertig. Steht doch im Internet) – ja, ich liebe das eingeschlossene Bergvolk und wünschte ich wäre auch so ein Regelwerk an Zuverlässigkeit und Bestand. Aber es ist Kaiserwetter und ich will in die Natur, zumindest schon mal einen kleinen Hügel besteigen und den Kühen hallo sagen. Danach bekomme ich Suppe und Salat – heute ist nämlich Entlastungstag und soll mich auf die Fastenzeit vorbereiten. Ich nehme mir gleich 2x nach und danach falle ich auf der Liege in einen tiefen Mittagsschlaf. 

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Die Stille! Ich kann es kaum fassen, und dazu diese unglaubliche Sommer- Sonnen-Stimmung. Ich blinzele durch die Blätter und sehe am Himmel bunte Fallschirme Endlosschleifen drehen. Da bemerke ich, dass ich heute gar keinen Kaffee hatte und fühle mich obendrein leicht unterzuckert. Aus den Untiefen meiner Tasche wühle ich alt-verklebte Gummibärchen und eine Lufthansa Praline. Andächtig zerbreche ich meine süße Beute in kleine Teile und schiebe mir Stück für Stück genüsslich in den Mund. Dann endlich darf ich in den Wald: hier steht ein modernes Rechteck a la Star-Architekt Zumthor, in dem ich die nächsten Tage wohnen werde. Die zwei grünen Wärmflaschen im Schrank machen mir ein wenig Angst. Nur zu gut sind mir meine Verbrennungen von den Gummi-Streifen-Spuren auf meiner Haut von der letzten Detox-Saftkur in Erinnerung geblieben. Ich habe gezittert wie Wackelpudding auf einem Hochseedampfer und nichts, aber auch nichts konnte mich Wärmen, außer der Wärmflasche ohne Verschalung. 

Noch bin ich ein wenig unentschlossen was dieses Fasten anbelangt und wenn der Arzt morgen früh sagt, ich wäre nicht geeignet, werde ich mich nicht widersetzen. Es gibt ja so köstliches Essen hier...und die selbstgemachten Kuchen in der Orangerie...! 

Aber dann werde ich es wohl nie erfahren, diese vielzitierte gerühmte Fasteneuphorie nach etwa 3 Tagen ohne Kauen. Wenn die körpereigenen Besen, Ketone genannt, den inneren Hausputz beginnen und Leib und Seele auf Vordermann bringen.

Während einer Führung durch das Hotel, es ist ein großes Gebäude mit ziemlich vielen Anbauten und extra Waldschrat-Häuschen und moderneren Hütten im Wald, bekomme ich eine grobe Orientierung. Das Ärzte-Zentrum hat Rudolf Steiner-Charme und die schöne Turnhalle für Yoga und Pilates hat eine Lampe so riesig wie der Mond. Ich fühle mich an den höchst amüsanten Gesellschaftsroman „Willkommen in Welville“ von T.C. Boyle erinnert, in dem ein gewisser Doktor Kellogg (ja, der Erfinder der Cornflakes!) der Oberschicht mit Einläufen und anderen kruden Kuren überflüssige Pfunde und andere Neurosen austreibt. 

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Der Rundgang macht hungrig und ich freue mich auf Brühe mit gedämpfter Rohkost. Es gibt mehrere kleine Ess-Kammern, die für die Fastenden, eine für Übersäuerte („Schlanke Tanne 1 und 2“) und eine für die 5-Gänge Connaisseuren. Wir Fastenden sind die kleinste Gruppe und quatschen gleich drauflos als gäbe es kein morgen, vielleicht aus lauter Nervosität vor dem drohenden Entzug. Nullkommanull Paare, alles Einzelschicksale die wir hier, wie im Stuhlkreis (nur mit Tisch davor) vor unserem Tee und Brühe sitzen. Es wird sich gleich geduzt schließlich sind wir die nächsten Tage eine kleine „Zero Food“- Gemeinschaft. Wie in einer Selbsthilfegruppe, legt jeder seine Motivation für die 7 Tage auf den Tisch, stellt sich persönlich vor und es wird viel gelacht. Am allermeisten über sich selbst. Da ist Helga aus Bern mit ihrem behäbigen Schweizer Dialekt, ein Fastenprofi, wie sich herausstellen soll; eine nette Kölner Dame, die sich als Stammgast outet und eine Neu-Oldenburgerin, die sich gerade frisch getrennt hat. Dann eine sehr lustig, rundliche Ungarin aus Dachau, die ihren Badeanzug vergessen hat und mit 45 nochmal Mutter geworden ist und Britta mit Labrador Nelly, auch in der Fashionbranche zuhause – wir verstehen uns gleich auf Anhieb gut. Als wir gerade unser Gemüse fertiggeknabbert haben, kommt sogar ein Mann in die Runde. Als Fastenbrecher hat er ganz festlich eine Kerze vor sich stehen.

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Ich schiele neidisch zu ihm rüber und will gerade meckern, was er in unserer Stube zu suchen hätte, als man ihm einen Becher Joghurt und einen Apfel bringt – nach 6 Tagen Fasten! Er schneidet den Apfel in viele kleine Stücke (so wie ich meine Lufthansa Schoki), um dann jeden Bissen 30 Mal kauend irgendwann runter zu schlucken. Na, das kann ja heiter werden, denke ich und lenke mich mit Gesprächen über Backrezepte und was wir alles wieder Essen werden, wenn wir wieder essen dürfen – ab. Lieblingsrezepte werden ausgetauscht und ich könnte innerlich ein ganzes Tannerhof-Kochbuch füllen. Aber manchmal sind die Gespräche auch ernst, wenn zum Beispiel unsere junge Greenpeace Aktivistin mit dem honorigen Shell-Jurist AD diskutiert. Ein Hanseat durch und durch. In seiner Freizeit ist er Organist und darf in der Dorfkirche Orgelspielen. Hier im Saal sitzt ein guter Querschnitt Deutschlands – zumindest demographisch und wir bilden eine gute Gemeinschaft. Meist tagen wir bis spät in die Nacht, es wird diskutiert, gelacht und manchmal fließen auch Tränen. 

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Für mich kehrt Fasten das Innerste nach Außen und als ich die ersten 3 Tage überstanden habe, kommt tatsächliche die Euphorie, die Kraft und ich fühle mich leicht wie ein Vogel– nicht nur im Kopf. Eine gewisse Unbekümmertheit und Albernheit stellt sich ein, ganz plätschernd und wunderbar beschwipst vom scheinbaren Nichts.

Unsere Nachbarn aus der Schlanken Tanne fragen sich schon, ob wir anstelle von Wasser nicht doch eher Wodka in den Karaffen haben? Weit gefehlt. Ich gewöhne mich langsam ein, auch den Gang zur Po-fee (so nennen wir liebevoll die Dame mit den Einläufen) ist irgendwann nur Routine, danach folgt der Heuwickel, bei dem ich jedes mal komatös in den Schlaf gleite. Da ich ein paar Verspannungen habe, gönne ich mir noch ein wenig Rolfing und auch mal eine Massage. Mittags gibt es eine Suppe und ich schwöre: Ich schmecke jedes kleinste Kraut heraus. Ein schöner Nebeneffekt beim Fasten ist nämlich, dass meine Geschmacksnerven wieder auf Hochtouren laufen. Auch der Geruchssinn kehrt zurück und das Schönste für mich: der frische Grasgeruch jeden Tag. Heublumen und feuchte Erde riechen. Der Tag im Tannerhof verstreicht viel zu schnell. Und nach einen abendlichen Saunagang schleppe ich mich bettschwer den Hügel „naufi in mai Hüattn“. 

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Kaum zu glauben, aber ich renne hier quasi 1 Woche lang in den gleichen Klamotten rum, faste also auch vom Style-Spleen. Meine Haare sind zum Dutt gebunden und weder Make-up noch Shampoo kommen in die Nähe meines Schopfes. WLAN funktioniert nur in der Nähe der Rezeption und im Fernsehzimmer sitzen Frauen die bei Rosamunde-Pilcher-Serien die tollsten Strickteile zaubern. Ich schlürfe Ingwerwasser und bestaune in der Baumallee die Familiengeschichte der Familie von Mergershausen (diese hier auszuführen wäre zu umfangreich, lässt sich jedoch in der Familienchronik eindrucksvoll nachlesen).

Viele Künstler und Musiker sind hier zu Gast, sogar der Kette rauchende Helmut Schmidt soll sich zu Lebzeiten hierher verirrt haben. Hauptsache der Seehofer lässt sich hier nicht blicken – im Service arbeitet ein entzückender junger Eritrea – und Bayrisch Zell ist stolz darauf, seine 7 Flüchtlinge gut integriert zu haben: so backt in Stadtbekannten Bäckerei Rolfes ein Somalier Zwetgendatschi – so schade, dass ich nie in den Genuss kommen werde.

So wie ich langsam ins Fasten gekommen bin, so langsam passiert auch das Fastenbrechen – alles 30-40 Mal kauen und jeden Tag kommt etwas mehr dazu. Ich lerne wieder bewusst zu Essen und zu genießen, kaue und fühle mich wie neugeboren. Hunger hatte ich die ganze Zeit übrigens nie, höchstens Appetit. 

 Zum Tastenbrechen gibt's eine gedünsteten Apfel. Ich habe noch nie etwas köstlicheres gegessen.

Zum Tastenbrechen gibt's eine gedünsteten Apfel. Ich habe noch nie etwas köstlicheres gegessen.

Ich werde versuchen jedes Jahr wieder zu kommen, so wie die elegante Dame mit Gehstock, die schon seit 50 Jahren herkommt. Bei Burgi im Mal-Atelier knete ich mir meine Zukunft und male mir meine Vergangenheit aus dem Kopf. Ich blicke über die Täler und Berge optimistisch in die Zukunft. Freue mich auf zu Hause und was ich alles Kochen werde. Jetzt verstehe ich endlich diesen gesunden Hype. 

 Ein schöner Nebeneffekt bei 3-4 Liter Wasser und Brühe am Tag: Die Haut bekommt einen Glow

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