„Ja, da muss ich dich erst einmal abräuchern!“
Meine Liebste hat ein neues Lieblingswort – und das kommt immer dann zur Anwendung, wenn ich mich über etwas aufrege. Zum Beispiel darüber, dass ich mich darüber aufrege, dass ich mich aufrege. Herr, schmeiße Gelassenheit vom Himmel!
Früher habe ich Stress besser verpackt. Konnte abschalten. Zur Ruhe kommen. Doch diese Zeiten sind anscheinend vorbei, jedenfalls im Moment. Und deswegen: „Abräuchern!“ Sie sagt es und ich lächle. Und Lächeln ist immer gut, um Stress von sich abperlen zu lassen – wenn man nicht gerade ein „Goldenes Ei“ oder ein „Klang-Diaphragma“ zur Hand hat.
Youtube bildet. Wenn ich nur an meine Laptop-Reparaturen denke… Den Tutorials sei Dank! Auf ein Tutorial nicht elektrotechnischer, sondern emotionaltechnischer Art haben uns Freunde aufmerksam gemacht – und diesem Video sei Dank: Es reicht nur eine Erwähnung und ich lächle. Dabei habe ich die dort erwähnten Techniken noch gar nicht versucht, die pure Erinnerung lässt mich wohler fühlen. „Soll ich dich abräuchern?“ Ich sage „Klang-Diaphragma!“ – und wir lächeln beide.
Es haben sich schon beinahe 6000 Menschen besagtes Video angesehen – eine Menge, finde ich. Natürlich ein Klacks gegenüber dem Auftritt von Julia Engelmann. Obwohl es um das gleiche Thema geht: Ein selbstbestimmtes, befriedigendes, ja glückliches Leben zu führen. „Dieses Video könnte Ihr Leben ändern“, schrieb der Stern über Engelsmanns Youtube-Mitschnitt. „Spiritualität im Alltag – Leben aus der Herzkraft“, ist der Youtube-Videotipp unserer Freunde überschrieben. Hier wie dort geht es also um unser Seelenheil.
Und um dieses scheinen sich viele Menschen Gedanken zu machen. Würden sie sonst klicken? Und wieder klicken? Aber ob das hilft? Hier wie dort? Ich bin da eher skeptisch. Mal abgesehen davon, dass ich ein esoterisch Ungläubiger bin, wenigstens in dem Sinn, dass sich bei mir bei einem bestimmten Vokabular ganz automatisch ein „Goldenes Ei“ um mich materialisiert, dass mich hier gegen Einflüsse abschirmt. Ich weiß, dass ist ein Widerspruch. Gleichwohl: Wäre ich hier offener, wäre ich angesichts dieses als spirituelles Hilfsmittel benutzten Klangerzeugers, der im besagten 6000-Klicks Video vorgestellt wird, wohl nicht auf das Wort „Klang-Diaphragma“ gekommen. Vielleicht hätte ich dann auch den weißen Salbei besorgt, diesen angezündet und mich von meiner Liebsten „abräuchern“ lassen, um mich so von schädlichen Energien zureinigen. Aber was noch nicht ist, kann ja noch werden.
„Man sieht nur mit dem Herzen gut“ heißt es in einer Erzählung, dessen Titel und Autor ich hier nicht nennen muss. Ich habe mir das 6000-Klicks Video wohl zu sehr mit dem Kopf gesehen. Vielleicht ein Teil meines oben erwähnten Problems. Aber für mich sah das Instrument nun wirklich wie ein Diaphragma aus – und schützen sollte es auch mit seinen Klängen…. Nun gut, ich habe einen Knuff kassiert. Aber auch ein Lächeln – und Lächeln ist schließlich gut.
Noch besser wäre natürlich, und hier bin ich wohl ganz Materialist, den Arsch hochzukriegen. Denn als Materialist weiß ich, dass etwas nur dann rund läuft, wenn die einzelnen, am Prozess beteiligten Elemente miteinander im Gleichklang sind. Kurz: Meine Menschmaschine läuft nicht rund. Mein Hirn läuft, mein Herz läuft – aber mein Körper läuft hinterher.
Früher, ganz früher, da war ich mehr auf den Beinen. Hab gar Sport getrieben. Selbst meine Jobs waren gut für meine körperliche Fitness. Was bin ich nicht als Kellner gelaufen. Als Möbelpacker oder beim Paketservice habe ich so einige Gewichte gestemmt. Und heute? Den ganzen Tag am Schreibtisch. Jetzt am Schreibtisch… Seit Jahren, Tag um Tag.
Es ist ein Gemeinplatz, dass es vielen Menschen so geht. Immer schon so erging. Wäre es anders, hätte sich ein kluger Mensch nicht schon in der Antike den einprägsamen Hinweis einfallen lassen „Mens sana in corpore sano“, um den trägeren Mitmenschen auf die Sprünge zu helfen, endlich ein vollständiges Leben, ein Leben im Gleichgewicht mit sich selbst zu führen. Wobei ich hier noch das Herz ergänzen würde, jedenfalls als den symbolischen Sitz der Gefühle. Heilige Dreifaltigkeit sage ich esoterisch Ungläubiger nur.
Heute sah ich, als ich nach der Arbeit meinen Roller antrat, einen Werbespruch auf einem Auto, das auf dem Parkplatz stand. Es ging um einen Drink, der eine bessere „Brain und Body Perfomance“ versprach. Aber ich bin nicht nur esoterisch, sondern auch isotonisch ungläubig. Das wäre ja auch zu einfach. Da bin ich ganz das Kind meiner Eltern. Seelenheil hat etwas mit Arbeit zu tun. Dabei bin ich katholisch und nicht protestantisch aufgewachsen. Nun gut, sei es drum. Letztlich läuft es für mich darauf hinaus, den Arsch hochzukriegen. Wieder mehr für meinen Körper zu tun. Da hilft kein Drink, kein brennender weißer Salbei, kein Klick auf Julia Engelsmanns Youtube-Clip.
Apropos: „Mein Patronus ist ein Schweinehund!“, dieser Satz aus Engelmanns Text gefiel unserer Jüngsten sehr. Sie mag die Romane von Rowling. Ich bin mir sicher, dass sie, sobald mal wieder das Thema „Ich sollte aufräumen, aber mir kam etwas Wichtigeres dazwischen“ ansteht, lächelnd erwidern wird: „Mein Patronus ist ein Schweinehund!“ Und ich werde – hoffentlich gerade auf dem Weg zum Sport – lächelnd entgegen: „Da muss ich dich wohl mal abräuchern!“