Alltägliches über Lernschwierigkeiten
Ich stehe im Vorzimmer unseres HNO-Arztes und erkläre, warum wir heute kommen. Der Warteraum ist voll, also fasse ich mich möglichst kurz. Schließlich will ich die Dinge mit dem Arzt diskutieren und nicht öffentlich vor Unbekannten. Unsere Tochter ist sechs und hat Sprachschwierigkeiten, die besonders jetzt in der Schule zu einem Problem werden. Deswegen wollen wir überprüfen, ob unser Mädchen gut hören kann.
“Und da wundern Sie sich, wenn Sie Ihre Kinder zweisprachig erziehen?”, antwortet mir die Arzthelferin.
Möglicherweise war dieser Satz gar nicht so böse gemeint, doch er verstärkt in mir das Gefühl, dass sämtliche Schulprobleme meiner Tochter von mir verursacht und außerdem eine Frage der richtigen Erziehung wären.
Wenn ein Kind nicht gut in der Schule mitkommt, weckt es allerlei Gefühle bei den Eltern. Die meisten haben etwas mit Enttäuschung, Angst, negativen Zukunftsvorstellungen und einem Gefühl von Versagen zu tun. In den wenigsten Fällen werden sich Eltern über die Tatsache, dass ihr Kind Schwierigkeiten mit dem Lesen, Rechnen oder Schreiben hat, freuen.
Nun ist die Pädagogik ja nicht ganz ratlos, wenn es um Lernschwierigkeiten geht. So weiß man zum Beispiel, dass regelmäßiges Vorlesen in der Familie die Chancen erhöht, dass Kinder später selber gerne lesen und zudem ein reicheres Vokabularschatz entwickeln.
Hatte man noch nicht die Gelegenheit sich mit dem jeweiligen Kind und seiner Situation wirklich ausgiebig auseinanderzusetzen, führt diese Erkenntnis jedoch zu voreiligen und unreflektierten Ratschlägen an die Eltern: “Sie müssen einfach mit Ihrem Kind mehr sprechen. Sie müssen ihm viel vorlesen.”
Auch wir fangen uns irgendwann einmal an zu fragen, ob wir etwas falsch gemacht haben, ob wir mit unseren Kindern ausreichend geredet haben, ob wir sie genug gefördert haben. Selbst dann, wenn man das Kind bis zu diesem Zeitpunkt vor Vorwürfen und übertriebenem Lerndruck geschützt hat, wird es jetzt mit dem Thema des Versagens konfrontiert.
Am Anfang macht sich die Angst vor dem Versagen breit…
Schulversagen ist ein großes Thema - für Kinder, für Lehrer, für Eltern
Mein Mädchen liegt im Bett. Bevor sie einschläft, sagt sie noch, sie möchte nie wieder in die Schule gehen. Den anderen Kindern falle es so leicht die Antworten zu wissen. Und sie bemühe sich so sehr, aber ihr Kopf helfe ihr einfach nicht.
Die Angst, die das Versagen beim Lernen weckt, ist am Anfang übermächtig. Und betrifft nicht nur das Kind. Wie ich weiter oben verdeutlicht habe, bleiben auch Eltern von eigenen oder fremden Vorwürfen, sie könnten etwas falsch gemacht haben, nicht verschont. Und ebenso für Lehrer ist diese Situation nicht besonders leicht. Versagt der Schüler, so versagt ja gleichzeitig auch der Lehrer.
Im Stich gelassen?
Meine Tochter kann nicht lesen! - Dies ist ein Satz, der sich schwer laut aussprechen lässt. Und doch bin ich vermutlich nicht allein. Viele Eltern haben mit der Tatsache zu kämpfen, dass ihr Kind in irgendeinem schulischen Bereich nicht gut mitkommt.
Ich bin nicht allein! Und doch komme ich mir zeitweise so vor. Es ist schwer sonderpädagogische Beratung zu erhalten, denn Wartezeiten in vielen Institutionen bewegen sich zwischen 10 und 12 Monaten. Manchmal lautet die Antwort gleich: “Leider, wir haben Aufnahmestopp - tut uns leid.”
Nun habe ich Glück, dass Sonderpädagogik nicht zu den mir unbekannten Themen gehört. Und zusätzlich kann ich mich auf die Kompetenz der Lehrerinnen verlassen, die meine Tochter begleiten.
Ja, bei uns ist so etwas auch möglich!
Lernschwierigkeiten werden aus mir verständlichen Gründen sehr oft zum Tabuthema. Nur ungern thematisiert man das als Elternteil vor anderen Eltern. Auch Kinder verschleiern oft, dass sie Schwierigkeiten mit dem Lernstoff haben. Sie schämen sich.Mein Mädchen erzählt mir, dass es sie sehr belastet, wenn sie von anderen Kindern in der Schule abschauen müsse. Sie mache sich Sorgen, denn das Abschauen ist verboten und außerdem würde so eine Leistung ja nichts zählen. Man muss es selber können. Ihr gelinge es aber nur manchmal, selber die richtigen Buchstaben zu finden. Sätze in Büchern lernt sie auswendig, um nicht zeigen zu müssen, dass es bei ihr mit dem Lesen noch nicht klappt. Gleichzeitig nimmt sie wahr, dass die anderen Kinder keine größeren Probleme mit den Aufgaben haben.
Lange habe ich überlegt, ob ich dieses Thema im Blog wirklich offen besprechen sollte. Es berührt ja auch zum Teil die Privatsphäre meines Kindes, die ich nicht unbedingt öffentlich machen möchte.
Und trotzdem finde ich, ich sollte über dieses Thema offen sprechen. Gerade deswegen, weil ich es kann und weil wir als Familie nicht unbedingt den Vorurteilen der Gesellschaft entsprechen.
Wir gehören nicht der sogenannten bildungsfernen Schicht der Gesellschaft an, bei der man oft Sprachschwierigkeit als natürlich ansieht. Und trotz unserer Mehrsprachigkeit erfüllen wir auch nicht das Klischee einer Migrantenfamilie so ganz. Deshalb kann ich mich trauen, das Thema Schulversagen und Sprachschwierigkeiten öffentlich zu diskutieren.