Mein Freund, der Rolli – Persönliches zur Kulturgeschichte des Rollstuhls

Von Walter

Wer wie ich seit über fünfzig Jahren im Rollstuhl sitzt, kann über dieses Kulturgut mit Rädern etwas erzählen. Und weil ich zu meiner Behinderung und dem Rollstuhl ein eher unverkrampftes Verhältnis habe, kommt das auch noch ganz schön locker rüber. Denn es ist nicht wirklich hilfreich, daraus eine todernste Sache zu machen. – Episoden und Ansichten aus meinem Rollstuhlleben. (Achtung Überlänge!)

Ein alter Rollstuhl in Szene gesetzt. «The star» von Michael Kötter, CC-Lizenz via flickr

In meiner Kindheit gab es im Gegensatz zu heute noch keinen kindgerechten Rollstuhl. Die Kinder im Spital, die nicht laufen konnten, obschon sie es vom Alter her hätten können müssen, wurden herumgetragen, auf einem Schragen mit Rädern herumtransportiert oder liegen gelassen, im Bett oder auf einer Decke auf dem Fussboden. Ich selbst entkam Anfang der 1960er Jahre im Kinderspital Basel, wo ich bis ins Schulalter lebte, diesem trüben Schicksal der kindlichen Eingrenzung dank der Idee eines findigen Schreiners. Der Vater eines Schicksalsgefährten im selben Alter, der ebenfalls wegen Kinderlähmung im Spital war, schreinerte uns beiden eine Art Rollbrett, auf dem wir bäuchlings liegen konnten, mit zwei kleinen, fixen Rollen hinten und zwei ebenso kleinen, aber steuerbaren vorne. Dort, wo unsere Arme für die Fortbewegung Freiheit brauchten, war das Brett halbmondförmig ausgespart.

Bald schon beherrschten wir diese Rollbretter in geradezu beängstigender Weise. Beängstigend für die Fussgängerinnen und Fussgänger, von denen wir hauptsächlich Schuhe und Strümpfe wahrnahmen und denen wir nach Möglichkeit auswichen. Doch jene Fusswesen waren ebenso wie wir in steter Bewegung. Bald waren wir auch ausserhalb unseres Schlafsaals unterwegs, auf den Korridoren und in anderen Sälen. Geschlossene Türen allerdings waren ein echtes Hindernis, weil die Klinke ausserhalb unserer Reichweite war. So kam es, dass man uns mit der Zeit, wie man es bei Katzen tut, die Türe auftat und einen Spalt weit offen liess. Unsere Kreise wurden immer grösser. Wir eroberten uns auf den Rollbrettern Raum für Raum, indem wir nach Türen Ausschau hielten, die mindestens einen Spalt weit offen standen. Und in einem Kinderspital gibt es einige Türen – nicht nur geschlossene.

Mein erster Rollstuhl

Einen modernen Kinderrollstuhl wie diesen gab es noch nicht. (Von SORG Rollstuhltechnik GmbH+Co.KG – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0)

Doch ich komme vom Thema ab, meinem ganz persönlichen Blick auf die Kulturgeschichte des Rollstuhls, der, wie gesagt, in meiner frühen Kindheit durch Abwesenheit glänzte. Natürlich ist es ein Unterschied, ob ein wie auch immer gelähmtes Kind im Vorschulalter selbständig die Welt entdecken kann oder nicht – und wie gross die Kreise sind, die es selbständig ziehen kann. Das wird seine Weltläufigkeit für den Rest des Lebens prägen. Wohl deshalb ist man heute darauf bedacht, schon Kleinkinder mit einem Rollstuhl zu versorgen. Und vielleicht nur dank des Rollbrettes wurde mein Blick in die Welt schon in früher Kindheit leidlich weit, weiter vielleicht sogar als der Blick vieler Kinder, die in einer ganz normalen Familie, aber unter strenger Obhut ihrer Eltern aufwuchsen und ein nicht minder eingegrenztes Leben erleiden mussten wie meine gelähmten Spitalkinder ohne Rollstuhl und Rollbrett.

Ich glaube mich besonders befugt, einen Blick auf die Kulturgeschichte des Rollstuhls zu werfen, weil der Rolli einer meinen besten und treusten Freunde war und ist. Ich habe ein zärtliches Verhältnis zu ihm – nicht zuletzt, weil ich von ihm abhängig bin, ganz und gar abhängig. Der Rollstuhl ist Teil meines Körpers geworden, Teil meines Körperempfindens gar. Steht der Rollstuhl still, so stehe auch ich still. Hat er einen Plattfuss, so habe ich einen Plattfuss. Und dieses innige Verhältnis dauert nun schon fast ein Leben lang, um die fünfzig Jahre. Wichtige fünfzig Jahre – für mich wie für die Kulturgeschichte des Rollstuhls.

Meinen ersten Rollstuhl bekam ich im Kindergartenalter. Er bestand aus verchromten Stahlrohren, zwei grossen Rädern mit ebenso verchromten Greifreifen und klobigen Feststellbremsen, zwei kleineren, gespeichten Vollgummirädern vorne, einer ausladenden Sitzfläche aus dickem Leinen, überzogen mit dunkelblauem plastifiziertem Gewebe, einer ebensolchen Rückenlehne, einzeln aufklappbaren Fussbrettern, Wadenband, Griffen und Fussrasten hinten … Habe ich etwas vergessen? Ach ja: Da der Stuhl als faltbar galt, befand sich zwischen den beiden grossen Rädern ein hochkomplexes Gestänge, das alleine womöglich über zehn Kilogramm wog. Der Rollstuhl war gross, viel zu schwer und kaum eigenhändig zu bewegen – obschon er dafür gedacht war. Und zusammenklappen liess er sich auch nur mit grösster Anstrengung, seitens einer erwachsenen Person wohlverstanden – obschon nicht zuletzt darin Sinn und Zweck des Rollstuhls bestand. Zwischen Sitzfläche und Rückenlehne gab es einen grossen Spalt, durch den ich hätte verschwinden können, irgendwohin ins verchromte Gestänge zwischen den Rädern. Kurz: Der Stuhl war nicht zu gebrauchen. Trotzdem war ich mächtig stolz. Denn ich war von nun an kein «Bodensurri» mehr, sondern ein aufrecht sitzender Junge, der ebensoviel an Würde gewonnen hatte, wie er an Beweglichkeit verlor. Das prägte mein Bild vom Erwachsenwerden: Man tauscht Bewährtes, Liebgewonnenes ein gegen eine glitzernde Verheissung, die oft nicht hält, was sie verspricht.

Von der Hierarchie der Rollstuhlfahrer

In etwa so sah mein erster Rollstuhl aus. (Von Ane Cecilie Blichfeldt/norden.org, CC BY 2.5 dkVon der Hierarchie der Rollstuhlfahrer

Aber ich bin schon wieder abgeschweift. Mit den Jahren wuchs ich förmlich in den Rollstuhl hinein, gewann Macht über ihn. Er blieb zwar ein schweres Ungetüm. Aber mit zunehmender Körpergrösse wurde ich ihm ebenbürtig. Ich lernte auf dem Ochsen zu reiten. Da ich in einem Schulheim für körperbehinderte Kinder aufwuchs, entdeckte ich aber bald, dass es neben Rollstühlen, die wie Ochsen zu reiten waren, auch elegantere gab: die Pferde und Ponys unter den Rollstühlen. Sie waren leichter gebaut und schmaler. Auch farblich unterschieden sie sich vom grau-blauem Einerlei aus verchromtem Stahl und dunkelblauem oder grauem Sitz. Allerdings waren jene Rollis noch weit von der Art späterer Modelle entfernt, die dann immer farbiger und schicker wurden. Heute wirken manche Rollstühle, als wären sie modische Accessoirs.

Die Schülerinnen und Schüler der achten und neunten Klasse im Schulheim hatten solche wendigeren Rollis und waren darin erstaunlich beweglich. Einen solchen musste ich haben. Und dann wollte ich lernen, auf den Hinterrädern zu balancieren. Das sah toll aus und liess einen älter erscheinen, als man war – na ja, zumindest souveräner. Wenn man denn nicht rückwärts umfiel und sich lächerlich machte. Denn manche konnten danach nicht mehr selbständig vom Boden in den Rollstuhl zurücksteigen und mussten sich helfen lassen, was in der Hierarchie der Rollifahrer massiv Punkte kostete.

Es ging dann noch viele Jahre, bis ich den ersten sogenannten Aktivrollstuhl erhielt. Man ist darin einfach weniger behindert. Wirklich! Dieser Stuhl ist eine Art Massanzug auf Rädern: auf deine Körpergrösse zugeschnitten und möglichst «kipplig» eingestellt, also so, dass er sich leicht nach hinten kippen und in die Balance bringen lässt. Kleine Hindernisse, zum Beispiel eine Bordsteinkante, lassen sich auf diese Art problemlos überwinden – sofern man nicht an Händen oder Armen behindert ist und sich geschickt anstellt. Die Welt rückt dadurch in greifbare Nähe. Man kann sie sich einfacher und vor allem selbständig erobern.

In diesem Zusammenhang möchte ich eine Episode erzählen, die zum Glück verjährt ist, mir also heute kein Ungemach mehr bereiten kann, damals aber grobfahrlässig und nur durch mein junges Alter zu entschuldigen war. Ich war bereits erwachsen, als ich einen Aktivrollstuhl bekam, wenn ich mich recht erinnere der este in meinem Leben. Und mit dem eroberte ich mir an einem Strand in Südfrankreich das Meer. Damit ich nicht mühsam auf dem Sand ins Meer robben musste, fuhr ich gleich mit dem Rollstuhl in die sanfte Dünung, so dass ich bequem vom Stuhl ins Wasser gleiten und vor allem problemlos vom Wasser wieder zurück auf den Sitz des Rollstuhls steigen konnte. Ein wunderbares Erlebnis! Unvergessen bis heute. Doch wenige Wochen später zerbröselte der Rollstuhl gleichsam unter mir. Salzwasser und Sand waren eine fatale Mischung für sein Gestänge. Und in aller Eile musste ich bei der Invalidenversicherung (IV) einen neuen beantragen. Die administrativen Wege waren damals noch etwas kürzer als heute. Nur wenige Wochen später bekam ich eine entschiedene behördliche Absage. Ich hätte erst in drei Jahren wieder einen Rollstuhl zugute. Und überhaupt sei ihnen mein hoher Verschleiss an Rollstühlen aufgefallen und inzwischen aktenkundig.

In einem ebenso frechen wie erbosten Antwortschreiben beklagte ich mich über die Qualität der Rollstühle, die dafür geeignet sein mögen, in den Korridoren der Behinderten- und Altersheime auf Spannteppichen hin und her zu rollen, aber bestimmt nicht dafür, einen jungen Behinderten, der in die Welt hinaus möchte, diesen Weg zu erleichtern. Und das sei nunmal nicht mein Versäumnis, so dass ich mich auch fortan nicht durch die schlechte Qualität der hiesigen Rollstühle daran hindern liesse, die Welt zu entdecken. Weshalb ich sie darum bitten möchte, nochmals auf ihren Entscheid zurück zu kommen. – Sie kamen nochmals darauf zurück. Ich bekam meinen Rollstuhl, ging aber fortan pfleglicher damit um.

Tendenz zur Zweiklassenversorgung

Wenn ein Rollstuhl zum modischen Accessoir wird. «Küschall Competition»: ein Rollstuhl der modernen Bauart. (Von Tim99~commonswiki – Eigenes Werk, CC-BY-SA 4.0)

Die Zurückhaltung der Invalidenversicherung hatte auch damit zu tun, dass ein solcher Aktivrollstuhl sündhaft teuer war. Zwischen zweitausend und dreitausend Franken musste man schon damals hinblättern. Und das nicht für ein Luxusmodell, sondern für einen relativ schlichten, individuell angepassten, nicht allzu schweren und doch stabilen Rollstuhl. Heute kommt man ndafür nicht unter fünftausend Franken weg. In der Schweiz werden Rollstühle in der Regel von der IV bezahlt. Nicht zuletzt deshalb sind die Stühle wie auch die anderen Hilfsmittel so teuer. Bei Versicherungsleistungen gelten generell höhere Preise. Dumm gelaufen! Manche sagen, die Preise seien wegen der kleinen Fertigungsserien so hoch – und wegen des hohen Beratungsaufwands.

Hinzu kommt, dass heute der Rollstuhlbau kaum mehr technische Grenzen kennt. Stühle aus Titan oder Karbonfasern oder einer Kombination von beiden sind keine Seltenheit. Bei manchen Modellen sind die Vorderräder gefedert. Andere sind rundum gefedert. Und wo immer möglich wird Gewicht eingespart. Im Bereich der Elektrorollstühle ist das Tummelfeld der technischen Innovationen noch sehr viel weiter. Keine Frage, auch dieser Hang zu Hightech treibt die Preise in die Höhe. Und die Versicherungen finanzieren längst nicht mehr jede Extravaganz. Im Gegenteil: Ihre Leistungen stehen unter Druck, ihr Entgegenkommen, das es früher durchaus gab, schmilzt dahin wie Schnee im Frühling. Die Zweiklassenversorgung in diesem Bereich ist Wirklichkeit geworden: mit einer Klasse von Menschen mit Behinderung, die – zumindest in der Schweiz – Zugang zu einer akzeptablen Versorgung mit Hilfsmitteln hat – vielleicht müsste man sagen: noch –, und einer Klasse von Behinderten, die je nach Behinderungsart und Versicherung – und je nach privatem finanziellen Hintergrund – Zugang zur ganzen Palette der Hilfmittel hat. Diese Kluft hat sich erst in den letzten Jahren aufgetan und entspricht einem gesamtgesellschaftlichen Trend. Und in der Schweiz ist das Klima diesbezüglich noch immer mild.

Es geht auch ohne Rollstuhl

Dass es auch ohne Rollstuhl geht, hat mich eine eindrückliche Begegnung in Pondicherry gelehrt. Ich hatte die Gelegenheit, anlässlich einer Reise nach Südindien in jener Stadt an der Ostküste einen Aktivisten der Behinderten-Selbsthilfebewegung zu treffen. Dieser hatte wie ich Polio, besass jedoch keinen Rollstuhl. Vielmehr brachte ihn ein Freund auf dem Motorrad zu unserem Treffen. Auf allen Vieren kam er ins «Le Café» in Pondi, die Beine eher nachschleifend, denn als Hilfe benutzend. Er war sehr beweglich und viel selbständiger, als wenn er im Rollstuhl gesessen wäre. Denn es gab einige Stufen, die ich selbst nur mit fremder Hilfe hatte überwinden können. In einem schnellen, mir schlecht verständlichen Englisch erzählte er von seinen Projekten, die grundsätzlich auf Selbsthilfe angelegt waren. Auf meine Fragen antwortete er unmittelbar und mit einem freundlichen Lächeln. Gleichzeitig gestikulierte er lebhaft mit seinen erstaunlich feingliedrigen Händen, waren sie doch zugleich sein wichtigstes Fortbewegungsmittel, wie bei den Fussgängern die Füsse. Er musste sehr intelligent sein und hatte eine wunderbare Ausstrahlung. Auch wenn er auf allen Vieren daherkam, hatte ich nicht das Empfinden, dass damit seine Würde beeinträchtigt war.

Inzwischen bin ich mit meinen Rollis weniger experimentierfreudig als auch schon. Ich bin konservativer geworden – weil mein Körper sich nicht mehr auf die Äste hinauswagen mag. So sind etwa die Transfers, das Hinüberwechseln vom Rollstuhl aufs Bett oder in die Badewanne – und dann auch wieder zurück –, schwieriger, ja gar etwas heikel geworden. Unter gewohnten Umständen funktionieren sie tadellos. Gibt es neue Umstände – und dazu kann ein neues Rollstuhlmodell gehören –, so ist es ungewiss, ob ich noch aus der Badewanne komme. Nicht zuletzt deshalb fahre ich seit bald zwanzig Jahren dasselbe Rollstuhlmodell, das sich bewährt hat. Das hat zudem den Vorteil, dass ich inzwischen ein weitgehend identisches Reservemodell im Keller habe. Wenn ich heute einen Plattfuss habe – pardon: mein Rollstuhl einen Plattfuss hat –, so kann ich mit einfachen Handgriffen das Rad meines Ersatzrollstuhls montieren – sofern dieses nicht vom letzten Mal noch einen Plattfuss hat … Ein Reservestuhl ist also äusserst hilfreich, grad wenn man alleine lebt. Auch diesen musste ich mir von der IV erkämpfen, denn die offizielle Sprachregelung lautet so, dass man die Rollstühle, die durch die Invalidenversicherung finanziert werden, nicht besitzt, sondern leihweise bekommt und demzufolge wieder zurückgeben muss, wenn man einen neuen Rollstuhl erhält. Will man den alten Stuhl behalten, so muss man gute Gründe vorweisen. Ohne Ersatzrollstuhl im Notfall völlig blockiert zu sein, ist ein solcher Grund – sofern man denn selbständig lebt und einem Erwerb nachgeht. Ist das nicht gegeben, wirds schon schwieriger. Es ist also ein aufwendiges und längeres Verfahren, bis ein solcher zweiter Stuhl bewilligt wird.

Ich komme – endlich – zum Schluss meiner Ausführungen. Eine Kulturgeschichte des Rollstuhls muss noch geschrieben werden. Mir hat es nur zu ein paar Episoden aus meinen Erfahrung gereicht. Auch wenn ich froh bin, dass es heute Rollstühle mit allen möglichen und unmöglichen Finessen gibt, sehne ich mich manchmal doch zurück nach der Leichtigkeit des Seins auf dem Rollbrett entlang der Korridore im Kinderspital. Doch vielleicht ist das blosse Nostalgie eines in die Jahre gekommenen Rollifahrers.


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