Diese Woche kämpfte ich etwas mit mir, ob ich meinen Corona-Senf lieber in der Tube lasse, es passiert in meinem Umfeld einfach zu wenig. Mit Sicherheit geht es mir wie vielen anderen: Irgendwie haben sich alle mit der Situation arrangiert, der Tagesrhythmus hat sich eingespielt, auch ohne große Kontakte zu anderen, es breitet sich ein gewisse Lethargie aus. Da nimmt es nicht Wunder, dass die ersten Exit-Diskussionen lauter werden.
Das war abzusehen: Die Zunahme der Infektionen bremst, in den Kurven wird das Wachstum so zusammengerechnet, dass sie inzwischen die ersehnte Flattened Curve annehmen, das sieht hübsch aus, das weckt Optimismus, das grenzt uns gegen andere Länder ausreichend ab. Ich mag es hier kaum posten, sonst erliegt man zu sehr dem Charme des Nationalen, aber ich bin froh, jetzt gerade in Deutschland zu leben. Klar, Schweden, Neuseeland oder Dänemark ist ganz schön, aber der gemäßigte, konsequente Weg in Deutschland scheint (im Gegensatz zu anderen) einer der besseren zu sein. Warum wir weiterhin mit die geringste Sterberate auf der Welt haben, bleibt ungeklärt, auch wenn so manche Experten Modelle anbieten. Das viele Testen, die gute Versorgung mit Beatmungsplätzen, vielleicht die Mentalität der Deutschen, die sich gerne an Regeln halten und sich durchbeißen möchten, könnten Erklärungen sein. Wie Jan Böhmermann bei „F+F“ vorsichtig andeutete: Den Deutschen liegt die Oma-Regel „Bunkern, Hamstern und den Schimmel wegschneiden“ (so hat er es nicht gesagt, das ist von mir, aber so ähnlich).
Trotzdem erliegen wir nicht den Versuchen, per chinesischem Dekret eingesperrt zu sein, unsere Ausgangsbeschränkungen sind im Vergleich zu anderen Ländern moderat, wenn jetzt schon schmerzlich, die Regierung hat imho ausreichend besonnen und rechtzeitig reagiert, ein Negieren der Sachlage à la Trump kann Berlin nicht vorgeworfen werden. Aber was, wenn Frau Merkel im Bundeswahlkampf zur Wiederwahl gesteckt hätte oder der Bundeskanzler hieße Merz? Frau Regierungschefin konnte in ihrer unvergleichlichen Art abwarten, vulgo besonnen reagieren, sie scheint zudem auf ihre Berater zu hören. Andere Regierungschefs haben da sicher Fehler gemacht (Symbollink –>> USA)
Zurück zum Exit: Just heute kam der Bericht der Leopoldina heraus, der ein maßvolles Zurückkehren zum präcoronaren Alltag skizzierte. Auch der liest sich besonnen und weise. Als Mediziner möchte ich eigentlich, dass alles erstmal so bleibt, wie es ist, aber ich kann leicht wünschen: Ich bin Kinderarzt, ich habe Rücklagen, ich habe Kinder, die entweder schon aus der Schule raus sind oder so sehr pubertieren, dass es für sie keinen Unterschied macht, ob sie in die Schule gehen und dort rumhängen oder daheim vor dem PC mit „GTA“ oder „Assasins“, nachdem sie die gestellten Aufgaben digital abgearbeitet haben („kann ich auch noch heute Nacht machen“). Außerdem bin ich sozialmäßig gut vernetzt, habe einen Garten, einen Supermarkt in Laufentfernung, der nie überlaufen war in den letzten drei Wochen. Im Zweifel habe ich sogar ein kleines Gewächshaus.
Also sollen erst einmal Teile der Grundschulen geöffnet werden, vielleicht in kleineren Klassen, vielleicht zeitversetzt, vielleicht mit Mundschutz. Das finden Acht- oder Neunjährige bestimmt lustig. Außerdem die Sekundarstufe, die Abschlussklassen, die Entscheidung muß schnell fallen, denn die Sommerferien beginnen Ende Juni in manchen Bundesländer, das sind gerade mal zwei Monate. Grundsätzlich bin ich jedoch kein Freund von halben Sachen, Teileröffnungen können schnell unfair werden, die einen halten sich dran, die anderen nicht, das eine Kind darf wieder in die Schule, das andere nicht, für die Familie und die Betreuung ändert sich damit (beinahe) nichts.
Der persönliche Schutz bleibt aber erhalten: Das Abstandhalten, die Handhygiene und – eher neu – die grundsätzliche Empfehlung des Tragens eines Mundschutzes (zum Schutz der anderen!, falls es jemand noch nicht verstanden hat), vor allem dann, wenn die Abstände nicht eingehalten werden können. Also im Supermarkt, also im ÖPNV. Die Tochter, die über Ostern aus der grossen Unistadt angereist war, um die Alten zu besuchen („Keine Reisen über Ostern…!“ = Hin- und Rückreise im PKW), zeigte sich leidlich überrascht, das beim Einkauf im hiesigen Supermarkt gerade mal drei Leute einen MNS trugen, nämlich eine ältere Dame, sie selbst und der Papa. Wir kamen uns reichlich komisch vor, aber vielleicht haben wir hier auf dem Land einen Trend gesettet. Ich werde berichten.
Am meisten fehlen mir persönlich das Kino (dann eben mehr Netflix-Glotzen), Konzerte (dank an 3Sat für die Rockkonzerte im Stream und an Igor Levit) und dass die Buchhandlungen und Bibliotheken alle zu sind (dann eben endlich den SuB abarbeiten, den Kindle reaktivieren und mehr über die Onleihe holen). Falls jemand ein Streamingalternative zum Schlendern durch Buchregale kennt, her damit. Der Garten ist zwischenzeitlich jedenfalls geputzt, ebenso das Hüttchen, die beste Ehefrau von allen hat den Kampf mit dem Löwenzahn noch nicht aufgegeben. Nachdem ich die nahe Urlaubsreise situationsbedingt abblasen musste, beschäftige ich mich nun mit dem Sommerurlaub. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Es ist weiterhin keine Lieferung von Schutzausrüstung durch die Kassenärztliche Vereinigung angekommen. Man beliefere zunächst die Notfallambulanzen, völlig ok, dann die Versorgerpraxen wie Haus- und Kinderärzte. So wurde es bereits vorletzte Woche kommuniziert, Anfang dieser Woche kam die Mail, die Lieferungen haben begonnen. Ich warte geduldig.
Habe ich mal erwähnt, dass ich Grafiken liebe? Hier zwei beeindruckende Illustrationen, plus ein Bonus von @nadrosia zum fantastischen Video von @maithi_nk, das sogar zu einem Kommentar in den Tagesthemen führte.
Tweet: Corona-Tote im Vergleich zu anderen EpidemienCorona-Tote im Vergleich zu anderen Epedemien (ab Tag 1) https://t.co/HN7USsf3lw pic.twitter.com/wS0q2wx7r0
— Matthias Seifert (@MatthiasSeifert) April 12, 2020
Tweet: Arbeitlosenanträge in den USA in den letzten JahrzehntenDie US-Arbeitslosenanträge als Gif. Unvorstellbar. pic.twitter.com/tsXa25r3Kp
— Tibor Martini (@tibor) April 2, 2020
Tweet: Illustration von Nadine Roßa zum Video von MaiLabDas neue Video über die Phasen der Epidemiebekämpfung von @maithi_nk fand ich sehr anschaulich erklärt: https://t.co/QJFGthH0bE
— Nadine Roßa (@nadrosia) April 2, 2020
Es war aber auch ein kleiner Downer darüber wie lange das alles hier noch dauern kann.#COVID19 #maiLab #sketchnotes pic.twitter.com/SFoLzZvRth
Bleibt gesund!
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